Afghanistan: Der Buhmann

Afghanistans Präsident Ashraf Ghani. Bild: state.gov

Präsident Ghani steht an der Spitze eines grundlegend korrupten Systems, dessen Teil er nie gewesen ist

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Seit rund zwei Jahren befindet sich Afghanistans Präsident Ashraf Ghani im Amt. Nachdem er seinen Vorgänger Hamid Karzai beerbt hat, war die Hoffnung seitens vieler Afghanen groß. Ghani stellte einen Kontrast zum politischen Establishment in Kabul dar. Als Wissenschaftler und ehemaliger Hochschulprofessor hatte er nichts mit dem Krieg der letzten Jahrzehnte zu tun und kaum etwas mit jenen Kriegsherrn gemein, die viel zur Zerstörung des Landes beigetragen hatten.

Als Afghanistan in den 80er- und 90er-Jahren vom Krieg heimgesucht wurde, befand sich Ashraf Ghani in den Vereinigten Staaten. Nachdem er sein Studium abschloss, ging er in die Lehre. Zu seinen Schwerpunkten gehörten Politikwissenschaft und Anthropologie. Ghani galt als ein Theoretiker, der Ahnung von seinem Fach hatte. Im Laufe der Zeit wurde er deshalb unter anderem auch für die Weltbank tätig.

Für seine afghanische Heimat hatte Ghani stets eine Vision. Ansätze davon wurden etwa in seiner wissenschaftlichen Publikaton "Fixing Failed States", die er gemeinsam mit seiner Kollegin Clare Lockhart herausgab, deutlich. Nachdem die NATO in Afghanistan einmarschierte, kehrte Ghani gemeinsam mit anderen Intellektuellen aus dem Exil zurück. Wie sie hatte auch er sich vorgenommen, die "befreite Heimat" auf den richtigen Weg zu bringen.

Choleriker und Pragmatiker

Dies geschah anfangs etwa, indem er von 2002 bis 2004 in der Karzai-Administration als Finanzminister tätig gewesen ist. Schon während dieses Zeitraums machte Ghani deutlich, dass er nicht viel von Korruption hält, was vielen seiner Kollegen alles andere als gefiel. Damals wie heute gehört Afghanistan zu den korruptesten Staaten der Welt. Laut Hamid Karzai machte sich Ghani während seiner Zeit als Finanzminister viele Feinde. Hinzu kam noch seine cholerische Art, die vielen missfiel und ihn auch später noch Probleme bereiten sollte.

Nach seiner Zeit im Finanzministerium übernahm Ashraf Ghani wieder eine Rolle, die weit mehr zu ihm passte: Er wurde zum Kanzler der Kabuler Universität ernannt. Im Jahr 2009 ließ er sich zum ersten Mal als Präsidentschaftskandidaten aufstellen, unterlag jedoch massiv. Hamid Karzai konnte ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Abdullah Abdullah, seinem einstigen Außenminister, für sich entscheiden. Der Vorwurf des Wahlbetrugs lag im Raum.

Im Jahr 2014 stand das Ende der Karzai-Ära bevor und Ghani trat abermals an. Um vor allem die paschtunische Mehrheit des Landes anzusprechen, nahm Ghani seinen Stammesnamen Ahmadzai, den er mittlerweile nicht mehr trägt, an. Während seines Wahlkampfes präsentierte sich der ehemalige Hochschulprofessor als Pragmatiker. Deutlich wurde dies etwa, als er den berühmt-berüchtigten usbekischen Warlord Abdul Rashid Dostum, den Ghani selbst zuvor noch als "Killer" bezeichnet hat, zu seinem Vizepräsidentschaftskandidaten ernannte. Dostums Milizen sind bekannt dafür, Zivilisten, vor allem paschtunische, zu jagen. Doch für Ghani war es plötzlich kein Problem mehr, jemanden aus jenem Warlord-System, welches er verachtet hat, in sein Team zu integrieren.

Unbeliebt bei allen Seiten

Nach einer umstrittenen Stichwahl und der zweifachen Intervention von US-Außenminister John Kerry wurde Ashraf Ghani zu Karzais Nachfolger ernannt. Eine sogenannte "Regierung der nationalen Einheit" wurde gebildet. Für seinen unzufriedenen Kontrahenten, Abdullah Abdullah, wurde währenddessen ein neuer Posten geschaffen. Abdullah wurde zum CEO Afghanistans, eine Art Regierungschef, dessen Funktion in der afghanischen Verfassung de facto nicht existiert. Bis zum heutigen Tag machen sich viele Afghanen über ihr merkwürdiges Führungsduo lustig.

Vor allem in den letzten Monaten wurde die interne Kritik an Ghani immer lauter. Immer wieder hieß es, Ghani sei für den Posten des Präsidenten nicht geschaffen, regiere zunehmend autoritär und habe kein Verständnis für Kritik. Während Hamid Karzai sich etwa für jeden Einzelnen - vom einfachen Bauern bis hin zum mächtigen Kriegsherr - Zeit nahm und öfters Tee trinkend Stunden verbrachte, empfängt Ghani kaum jemanden. Einen einflussreichen Warlord soll er einst etwa nach fünfzehn Minuten wieder hinausgeschickt haben. Vertraute Ghanis betonen immer wieder, dass der Terminkalender des Präsidenten voll sei. Mehreren Aussagen zufolge gilt der 67-Jährige als Workaholic, der teils achtzehn Stunden am Tag arbeitet.

Andere Politiker um Ghani haben hierfür jedoch immer weniger Verständnis. Vizepräsident Dostum fragte sich etwa vor kurzem öffentlich, was seine Funktion in der Regierung sei, während Regierungschef Abdullah behauptete, mit Ghani seit Wochen nicht gesprochen zu haben. "Der Präsident hat keine Zeit für uns", prägte den Tenor der Beschwerden. Hinzu kommt Ghanis cholerische Art, die mittlerweile selbst Journalisten verschreckt.

"Nach ein paar kritischen Fragen behandelte mich der Präsident wie einen kleinen Schuljungen. Er wurde ausfallend und meinte, mich vor allen Kollegen zurecht pflegen zu müssen", meint etwa ein Journalist einer internationalen Nachrichtenagentur. Gemeinsam mit anderen ausländischen Berichterstattern wurde er unlängst zu einem Briefing in den Präsidentenpalast vorgeladen.

Opfer des Systems?

Ohnehin hat sich die internationale Presse in letzter Zeit Ghani mehr zugewandt. Der renommierte "New Yorker" widmete dem afghanischen Präsidenten etwa ein ausführliches, kritisches Porträt, während die "Washington Post" zum Schluss kam, dass Ghani "eines von vielen Problemen Afghanistans" sei.

Für die Taliban ist Ghani "sogar schlimmer als Karzai", wie sie bereits kurz nach seinem Amtseintritt bekannt gaben. Hauptgrund hierfür dürfte die Unterzeichnung des Bilateralen Sicherheitsabkommens (BSA) mit den USA gewesen sein, Ghanis erste Amtshandlung. Das Abkommen sieht unter anderem vor, die Straffreiheit von US-Soldaten in Afghanistan aufrechtzuerhalten sowie nächtliche Spezialeinsätze zu dulden.

Hinzu kommt noch das Agieren von Hamid Karzai, Ghanis Vorgänger. Denn obwohl dieser de facto keine politische Rolle mehr innehat, gibt er sich weiterhin staatsmännisch - und kritisiert Ghanis Regierung in aller Öffentlichkeit. Beobachter sind der Meinung, dass Karzai eine Rückkehr in die Politik plant.

Ashraf Ghani gilt in diesen Tagen als absoluter Buhmann. Sowohl die politische Elite als auch das einfache Volk machen ihn für die afghanische Misere verantwortlich. In diesem Kontext muss man sich allerdings fragen, inwiefern sich die Lage am Hindukusch durch einen anderen Staatschef, etwa durch Abdullah Abdullah, zum Positiven geändert hätte.

Bei all der teils berechtigten Kritik an Ghani geht jedoch eines unter: Afghanistans gegenwärtiger Präsident sitzt auf einem großen Haufen von Problemen, die er nicht zu verantworten hat. Ghani steht an der Spitze eines grundlegend korrupten Systems, dessen Teil er nie gewesen ist. Und der Gedanke, ein solches System von innen zu dominieren oder gar zu verändern, ist von Grund auf zum Scheitern verurteilt.