Syrien: Erste märchenhafte Effekte der US-russischen Abmachung

Die Dschihadisten sind nun keine solchen mehr, sondern "normale Syrer"

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Einen wahrhaft märchenhaften Effekt haben die russisch-amerikanischen Abmachungen (Syrien: Russland und USA einigen sich auf einen Waffenruhe-Plan) bereits erzielt: Plötzlich machen auch die bösen Milizen irgendwie auf "gut". Sehr anschaulich wird der Claim der PR-Offensive aufseiten der Dschihadisten an einem technischen Fehler in der FAZ sichtbar.

Dort war bis zum späten Montagmittag der ersten Frage eines Interviews mit der syrischen Oppositionellen Bassma Kodmani unbeabsichtigt die Wiederholung eines Satzes vorangestellt. Wie auf einer Schultafel stand da:

Die meisten Nusra-Kämpfer sind normale Syrer Die meisten Nusra-Kämpfer sind normale Syrer Die meisten Nusra-Kämpfer sind normale Syrer

Nun, was hilft‘s. Den IS-Attentätern in Nizza und Ansbach wurde von Nachbarn, im letzteren Fall von Mitbewohnern wie auch vom Sozialamt, bescheinigt, dass sie "normal" waren und freundlich. Letztlich war aber doch die Ideologie wichtiger.

Waffenruhe beginnt

Heute Abend gegen 19 Uhr syrischer Ortszeit beginnt das islamische Opferfest und damit die vereinbarte Waffenruhe, die Hilfslieferungen ermöglichen soll: Der rote Halbmond und die UN schicken Hilfslieferungen mit Nahrung, Kleidung und Kinderspielzeug nach Aleppo, kündigte der türkische Präsident Erdogan an. Mehr als 30 Lastwägen sollen es sein.

Aleppo ist das Laboratorium, schreibt Le Monde. Dort werde man zuerst sehen, ob der Weg zu einer friedlichen Lösung in Syrien funktioniert.

Laut den amerikanisch-russischen Abmachungen ist die Einhaltung der Waffenruhe in stärker umkämpften Gebieten, also nicht nur in Aleppo, die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit im Kampf gegen Al-Nusra - und wem noch?

Kerry und Lawrow: Kampf gegen Terroristen

Sieben Tage lang soll sich das "Regime der Waffenruhe" bewähren. Während dieser Zeit wollen Vertreter Russlands und der USA die Einrichtung einer gemeinsamen Operationszentrale (Joint Implementation Center - JIC) vorbereiten, um danach, so US-Außenminister Kerry, Angriffsziele in genau bezeichneten Gebieten zu besprechen. Die Gebiete definierte er als von "al-Nusra und Oppositionsgruppen" kontrolliert. Er ergänzte, dass es sich um Gebiete "aktiver Feindseligkeiten" handelt.

Die al-Nusra-Front, wie sie sich selbst präsentiert. Normale Syrer? Foto: Propangandamaterial

Nach Ablauf der sieben Tage Waffenruhe würden die amerikanischen und russischen Experten zusammenarbeiten, "um Daesh und Nusra" zu besiegen, sagte Kerry. Er sprach auch davon, dass die beiden Länder, "terroristische Gruppen" isolieren und besiegen würden, welche "unermesslich zur Misere Syriens beigetragen" hätten.

Sein russischer Kollege Lawrow sprach in der gemeinsamen Pressekonferenz von "gemeinsamen Angriffen gegen Terroristen".

Wer ist nun mit Terroristen genau gemeint?

Hier nun setzen erste Abwehrmaßnahmen der Opposition ein. Im Extremen zu sehen etwa bei der oben genannten Oppositionsvertreterin Bassma Kodmani. Sie nimmt sogar die al-Qaida-Miliz al-Nusra in Schutz und plädiert dafür, dass man sie besser von innen bekämpfen, statt sie zu bombardieren.

Dies wäre sinnvoller, sagt die Sprecherin des Syrian National Councils, die früher Waffenlieferungen an die Opposition unterstützt hat. Ihr Argument:

Denn die meisten Nusra-Kämpfer sind normale Syrer, die der Nusra-Front beigetreten sind, weil sie finanzielle Unterstützung für ihren Kampf gegen das Regime brauchen. Die ausländische Führung der Nusra ist vielmehr das Problem. Sie sind diejenigen mit Verbindungen zu Al Qaida. Die meisten Kämpfer haben mit dieser Ideologie wenig zu tun.

Bassma Kodmani

Das ist eine offensichtliche Verzerrung mehrere Dinge. Woher nimmt Kodmani die Überzeugung, wonach Mitglieder der al-Nusra nichts mit deren Ideologie zu tun haben, wenn genau mit dieser Ideologie rekrutiert wird? Wieso spinnt sie das Narrativ von al-Nusra weiter, wonach die Gruppe nur wenig mit al-Qaida zu tun habe? Was ein weiteres Rekrutierungsargument der Miliz ist.

Die Nusra-Front hat ihre formelle, aber nicht ideologische Distanzierung von al-Qaida inklusive neuer Namensgebung aus strategischen Gründen vollzogen, um die Anschlussfähigkeit anderer Gruppen zu erhöhen - um die gemeinsame Front des "syrischen Dschihad" groß zu machen.

Auch ihr folgendes Credo, wonach, "sobald der Frieden greifbar sein wird", die radikalen Teile der Opposition sofort marginalisiert würden, ist utopisch bzw. waghalsig, wenn man sich die Entwicklung der Machtverhältnisse in der bewaffneten Opposition der letzten Jahre vor Augen hält.

"Wir brauchen zuerst eine Neuordnung"

Man kann aus dem Interview zwei Argumentationspunkte herausstellen, die auch in anderen Stellungnahmen der Opposition zum amerikanisch-russischen Deal auftauchen: der Hinweis darauf, dass damit die Stellung die syrische Opposition geschwächt wird:

Das Problem ist auch, dass die Trennung von Jabhat Fateh al Sham und den anderen Oppositionsgruppen eine Schwächung der Opposition in ihrem Kampf gegen Assad bedeutet.

Bassma Kodmani

Damit zusammenhängend gehört dazu das unbedingte Festhalten am Regime-Change - am besten mit den radikaleren Kräften, also auch mit al-Qaida-Milizen -, weil man diese später dann in Griff kriegen würde.

Aber wir brauchen zuerst eine Neuordnung, um überhaupt feststellen zu können, wer wo steht. Im Kriegschaos gedeihen die Radikalen natürlich. Aber im Frieden verlieren sie ihre Existenzberechtigung. Vielleicht wollen einige von ihnen auch darüber hinaus ihre islamistischen Ziele verfolgen; dann können sie eine Partei bilden und sich demokratischen Wahlen stellen. Wir werden sie dann politisch bekämpfen.

Bassma Kodmani

Maskenspiele

Die syrischen Islamisten wüssten, dass sie sich momentan eine moderate Maske aufsetzen müssen, um die westliche Öffentlichkeit zu überzeugen, kommentieren dazu Beobachter, welche die Bereitschaft, solches zu übernehmen, von westlichen Berichterstattern kennen.

Die salafistisch-dschihadistische Gruppe Ahrar al-Sham hat es mit ihrer Charmeoffensive schon einmal zu einem von einem Mitglied verfassten Artikel in der Washington Post geschafft. Die Gruppe hat starke Unterstützer in der Türkei, in Saudi-Arabien und in Golfstaaten. Sie ist seit längerem schon ein enger Partner der al-Nusra-Front. Die Frage ist nun, wie sie sich zum US-russischen Deal verhalten wird.

Wozu zählt Ahrar al-Sham?

Gestern gab es dazu widersprüchliche Meldungen. Einmal hieß es, dass ein Sprecher der Gruppe den Waffenruhe-Plan kritisiert und abgelehnt habe. Über Video wurde mitgeteilt, dass Ahrar al-Sham die Separation von der al-Nusra-Front nicht unterstütze. Damit würden sie zum Ziel der amerikanisch-russischen Luftangriffe.

Das Argument von Ahrar al-Sham ähnelt dem oben genannten: Der russisch-amerikanische Deal sei darauf ausgerichtet, die zu eliminieren, welche die Syrer schützen. So zitiert der von Saudi-Arabien fianzierte Sender al-Arabjia einen Vertreter von Ahrar al-Sham.

Laut dem britischen Experten der syrischen Oppositionsgruppen Charles Lister, der sein Geld in Katar verdient und der Opposition viel Sympathie und Anteilnahme entgegenbringt, kam es innerhalb von Ahrar al-Sham zu Unstimmigkeiten über die erste Reaktion. Man müsse sich die Reaktion erst genauer überlegen, referiert Lister aus der Führungsebene.

Man darf gespannt sein, zu welchen Arrangements der russisch-amerikanische Operationsraum in der Frage al-Nusra kommt.