"Keynes war nicht links, sondern konservativ"

Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes. Alle Bilder: Public Domain

Ulrike Herrmann hält die Wirtschaftswissenschaften für eine Religion

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Trotz einiger eklatanten Fehlaussagen sitzt die neoklassische Wirtschaftslehre bis zum heutigen Tag nicht nur an den Universitäten fest im Sattel. In ihrem Buch Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung hält Ulrike Herrmann mit Smith, Marx und Keynes dagegen. Ein Gespräch mit der Autorin.

Frau Herrmann, welche Fehler entdecken Sie bei den gegenwärtigen Mainstram-Ökonomen?

Ulrike Herrmann: In der Ökonomie hat sich eine Schule namens "Neoklassik" durchgesetzt, die ihre Theorien so konstruiert, als würden wir uns in einer Art fiktivem Mittelalter befinden und als hätte es die Industrialisierung nie gegeben. Die Ökonomen modellieren eine Welt, in der es nur Wochenmärkte gibt, auf denen Äpfel und Birnen gehandelt werden. Es mag ungeheuerlich klingen, aber die meisten Volkswirte haben keinen Begriff davon, was es bedeutet, in einem voll ausgereiften Kapitalismus zu leben, in dem Großkonzerne dominieren und die Spekulation grassiert. In der herrschenden Theorie spielen Investitionen und Kredite keine zentrale Rolle - ja selbst Geld und Gewinne kommen kaum vor.

Leider sitzen die Wirtschaftswissenschaftler nicht isoliert in einem Elfenbeinturm, wo sie keinen Schaden anrichten können. Im Gegenteil, sie sind so mächtig wie keine andere Disziplin. Sie beherrschen alle Expertengremien, beraten die Regierungen und lenken die Zentralbanken. Es ist nicht übertrieben: Die Irrtümer der Ökonomen kosten nicht nur Milliarden, sondern sogar Menschenleben. Allein die letzte Finanzkrise hat weltweit Billionen gekostet. Dieser teure Crash war nur möglich, weil die Ökonomen eine Theorie vertraten, in der Krisen gar nicht vorkamen: Stattdessen wurde behauptet, dass die Finanzmärkte stets zur "Effizienz" neigen würden.

Und wie kann man die Fehler des Mainstreams mit Smith, Marx und Keynes beheben?

Ulrike Herrmann: Zum Dogmatismus der Mainstream-Ökonomen gehört, dass sie die wichtigsten Theoretiker ihres eigenen Faches ignorieren. Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes werden an den Universitäten kaum, verzerrt oder gar nicht mehr gelehrt. Dabei haben diese Theoretiker ihre Disziplin begründet und umgewälzt. Ohne sie gäbe es die moderne Volkswirtschaftslehre überhaupt nicht.

Natürlich waren Smith, Marx und Keynes auch Kinder ihrer Zeit, sodass manche ihrer Ideen durch die historische Entwicklung widerlegt wurden. Aber anders als die heutigen Ökonomen haben sie die wesentlichen Fragen gestellt - und sich in der realen Welt umgesehen. Konkret: Die drei wollten wissen, warum die Wirtschaft wächst, wie Gewinne entstehen, ob sich Ausbeutung lohnt oder welche Rolle die Investitionen spielen.

Ziehen Smith, Marx und Keynes analytisch am selben Strang oder widersprechen sich deren Theorieansätze maßgeblich?

Ulrike Herrmann: Die Theorien von Smith, Marx und Keynes widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich. Ein paar Beispiele: Adam Smith hat bereits vor 240 Jahren klar erkannt, dass nicht die Intelligenz oder die "Leistung" erklärt, ob jemand arm oder reich ist. Stattdessen sah er genau, dass die Herkunft entscheidend ist - und dass Arbeiterkinder kaum Chancen haben. Viele glauben, Marx sei überholt, weil die Massen - anders als von ihm prognostiziert - nicht verelendet sind. Doch dies verkennt, dass Marx als Erster richtig beschrieben hat, welche Rolle die Technik im Kapitalismus spielt. Marx hat auch als Erster gesehen, dass ausgerechnet der Wettbewerb dazu führt, dass die Firmen immer größer werden, bis vom Wettbewerb nichts mehr übrig ist und nur noch wenige Großkonzerne herrschen.

Keynes wiederum wird gern als "linker" Spinner porträtiert. Erneut ein Irrtum. Keynes war nicht links, sondern konservativ. Er stammte aus der britischen Elite, verkehrte in den Salons von Adligen und Premierministern. Zudem war er professioneller Börsenspekulant. Er setzte auf Währungen, Rohstoffe und Aktien, nutzte Derivate und Kredite. Er war überaus erfolgreich und hinterließ ein Vermögen von umgerechnet 22 Millionen Euro. Aber gerade weil Keynes von der Spekulation lebte, wusste er, dass man die Spekulation unterbinden muss. Er hat als Erster beschrieben, wie der moderne Kapitalismus durch die Finanzmärkte getrieben wird, und wollte daher das "Finanzkasino" wieder schließen - übrigens ein Wort, das auch von Keynes stammt.

"Die Krise hatte mit den Lehren von Keynes überhaupt nichts zu tun"

In den 70ern wurde das keynesianische Wirtschaftsmodell vom Neoliberalismus abgelöst. Warum?

Ulrike Herrmann: Entscheidend war der Zusammenbruch des Weltwährungsystems von Bretton Woods 1973: Die Kurse von Dollar und Pfund rauschten in die Tiefe, was die Importpreise in den USA und in Großbritannien drastisch erhöhte. Gleichzeitig stieg der Ölpreis, weil die OPEC erstmals ihre Kartellmacht nutzte - so dass es vor allem in Amerika und in England zu enormen Inflationsraten von bis zu 30 Prozent kam. In dieser Situation machten die Gewerkschaften einen strategischen Fehler: Sie drohten mit Streik, falls die Löhne nicht genauso stark stiegen wie die Inflation. Damals hatten die Gewerkschaften noch Macht, weil Vollbeschäftigung herrschte. Die steigenden Lohnkosten konnten die Unternehmen jedoch nicht einfach wegdrücken, so dass sie ihre Preise erhöhten. Es kam zu einer fatalen Lohn-Preis-Spirale und zur sogenannten "Stagflation" - also zu einer Inflation mitten in der Rezession.

Diese "Stagflation" schien zu zeigen, dass sich eine Wirtschaft makroökonomisch nicht steuern lässt und dass Keynes sich offenbar geirrt hatte. Für die Mehrheit der Wähler war es daher naheliegend, auf die neoliberale Alternative zu setzen - und Reagan und Thatcher an die Macht zu wählen. Dabei hatte die Krise mit den Lehren von Keynes überhaupt nichts zu tun. Er hatte immer davor gewarnt, dass eine Inflation droht, wenn die Gehälter stärker steigen als die Produktivität der Wirtschaft.

Was halten Sie jetzt von meiner These, dass es den Keynesianismus immer noch gibt (ich würde z.B. den Bankenrettungsschirm eine keynesianische Maßnahme für die Wohlhabenden nennen), während nach unten die neoliberalen Prinzipien angewendet werden?

Ulrike Herrmann: Diese Beobachtung ist absolut richtig. Die Mainstream-Ökonomie misst mit zweierlei Maß. Besonders schön ist dies beim Thema Arbeitslöhne zu sehen: Die Neoklassiker sind hingebungsvoll damit beschäftigt, die "Grenzproduktivität" von Friseurinnen in Ostdeutschland zu analysieren - um dann zu stöhnen, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zu hoch sei.

Aber auf sich selbst wenden sie ihre Theorie niemals an. Nie wird gefragt, wie hoch eigentlich die "Grenzproduktivität" eines Wirtschaftsprofessors ist, der unbeirrt an einer Theorie festhält, die schwere Finanzkrisen und damit Billionenschäden produziert. Wäre die Welt tatsächlich neoklassisch, wären alle Neoklassiker längst entlassen, weil ihre "Grenzproduktivität" eindeutig weit unter null liegt - und selbst ein Mindestlohn von 8,50 Euro zu hoch wäre.

"Alle wichtigen Lehrstühle sind von Neoklassikern besetzt"

Wenn die heutige Mainstream-Ökonomie strukturell falsch liegt, warum sitzt sie dann so fest im Sattel?

Ulrike Herrmann: Es ist eine Theorie, die den Privilegierten nutzt. Es hat eine Funktion, dass die Neoklassiker so nachdrücklich behaupten, dass die Wirtschaft stets zum Gleichgewicht tendieren würde. Dies entsorgt das leidige Thema "Macht". Plötzlich ist es keine Frage mehr, warum einige reich und viele arm sind. Jeder bekommt, was angeblich seiner "Leistung" entspricht.

Die heutige Ökonomie hat mit Wissenschaft nichts mehr zu tun - sondern ist eine Religion. Wer das Mantra vom Gleichgewicht nicht glaubt, kann an einer großen Universität keine Karriere machen. Alle wichtigen Lehrstühle sind von Neoklassikern besetzt.

Daher ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Ökonomie von innen erneuert. Generationen von Studenten werden indoktriniert: Derzeit sind in Deutschland 429.676 Studierende im Fach Wirtschaft eingeschrieben. Sie lernen nie, ihre Disziplin kritisch zu hinterfragen. Stattdessen müssen sie sich durch Lehrbücher quälen, die "Musteraufgaben" und "Musterlösungen" präsentieren - also suggerieren, dass es eine "Wahrheit" gäbe.

Nachdem die Ursachen der Finanzkrise von 2008 keineswegs behoben sind: Können Sie sich einen weiteren Link auf http://www.heise.de/tp/artikel/37/37365/1.html vorstellen?

Ulrike Herrmann: Es kann jederzeit zu einer neuen Finanzkrise kommen. Das wissen auch die Banker; sie sind extrem nervös. Denn seit 2008 hat sich strukturell nichts geändert: Die Banken haben immer noch kein Eigenkapital, und die Spekulation geht ungebremst weiter.

Ulrike Herrmanns Buch Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung ist am 1. September im Westend Verlag erschienen.