"Der Sommer wird sehr warm"

Die meisten inhaftierten Journalisten wurden im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri für 11.000 Häftlinge eingesperrt. Bild: Google Maps

Die Zahl der inhaftierten Journalisten und Schriftsteller in der Türkei steigt seit dem Putschversuch vom 15. Juli rasant an, rechtsstaatliche Prinzipien gelten nicht mehr

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"Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." So beginnt Franz Kafkas "Prozess". So fühlte sich auch der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, als er im vergangenen Jahr festgenommen wurde. Und auch dem Journalist Ahmet Altan und seinem Bruder, dem Akademiker Mehmet Altan, dürfte es letzte Woche so ergangen sein, als die Polizei vor der Tür stand.

In einer Talkshow am Vorabend des Putschversuchs vom 15. Juli sollen sie den Putsch angekündigt haben. Nicht direkt, aber zwischen den Zeilen. Das genügt in Erdogan-Land als "Beweis": Man wirft ihnen vor, zur Gemeinde von Fethullah Gülen zu gehören, den man für den Putschversuch verantwortlich macht. Ahmet Altan ist einer der prominentesten Journalisten des Landes; er schrieb für Hürriyet, Milliyet, sowie mehrere Bücher, und gründete die liberale Tageszeitung Taraf, die im Juli verboten wurde.

Der Hürriyet-Reporter Arda Akin hatte vor Monaten auf Twitter geschrieben: "Der Sommer wird sehr warm." Dann nahm man ihn fest und deutete den Tweet als Ankündigung des Putsches. Man kann gar nicht anders, als an Kafka denken. Melis Alphan konstatiert, dass es in einem Rechtsstaat konkrete belastbare Beweise braucht, um jemanden zu verurteilen - in der Türkei hingegen würde in Artikel oder Äußerungen in Sozialen Netzwerken das hineininterpretiert, was man gerade braucht, um einen kritischen Geist aus dem Verkehr zu ziehen. Schon beim Ergenekon-Prozess, sagt sie, sei das so gelaufen.

Über hundert Journalisten sitzen in der Türkei momentan im Gefängnis, die meisten von ihnen in Silivri nahe Istanbul. Eine Haftanstalt, gebaut unter Erdogan, in der dauerhaft rund 15.000 Menschen einsitzen. Auch Dündar saß dort für mehrere Monate. In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Lebenslang für die Wahrheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis" (Hoffmann & Campe) beschreibt er Silivri als einen Ort, an dem alle landen, die der Präsident loswerden will.

Zuvor hatte er ein Video publiziert, das belegte, wie der türkische Geheimdienst MIT, als Hilfslieferungen getarnt, Waffen an syrische Extremisten lieferte (einen Vorwurf, den Präsident Erdogan später sogar eingestand). Der Cumhuriyet-Bericht erschien kurz vor den Parlamentswahlen. Unmittelbar danach kam die gerichtliche Vorladung. Dündar schreibt: "Der frisch gekürte Premierminister [Davutoglu] sagte: 'Die Pressefreiheit ist unsere rote Linie.' Sein erster Akt war es, die rote Linie zu überschreiten."

Die Staatsanwaltschaft konstruierte mit hanebüchener Argumentation, Dündar und sein Mitangeklagter, Erdem Gül, hätten Anweisungen von Fethullah Gülen erhalten, um Staatsgeheimnisse zu verraten und einer Terrororganisation zu helfen. Beweise dafür gab es freilich nicht.

Dündar beschreibt die fast 500 Seiten umfassende Anklageschrift, als hätte jemand eine unautorisierte Anthologie seiner Zeitungsartikel zusammengestellt und bemerkt in dem Zusammenhang, dass es immer heißt, niemand würde in der Türkei für journalistische Arbeit angeklagt - während faktisch bei all diesen Prozessen die journalistischen oder literarischen Arbeiten der Angeklagten als Begründung herangezogen werden. Kein Zufall also, dass er sich in seinem Gefängnisbericht nicht nur auf Kafka, sondern auch auf Orwell bezieht.

Schriftstellerin verhaftet von 30 Polizisten

Ähnlich lief es vor drei Wochen bei der renommierten Schriftstellerin Asli Erdogan, die für die inzwischen ebenfalls verbotene kurdische Tageszeitung Özgür Gündem schrieb: Sie wurde mitten in der Nacht verhaftet, tagelang gab es keinen Kontakt zur Außenwelt. Vor dem Haftrichter erfuhr sie, dass sie wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung angeklagt werde. Der Beweis: ihre Artikel. Sie legte Einspruch ein, doch der wurde abgewiesen.

Asli Erdoğan war niemals Mitglied einer terroristischen Vereinigung oder Organisation. Sie hat in ihren Schriften sich immer für den Frieden eingesetzt. Sie hat niemals an irgendwelchen illegalen Organisationen teilgenommen. Alle diese Beschuldigungen sind absurd. Sie haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Erdoğans Kollegin Gaye Boralioglu im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur

Asli Erdogan selbst hat sich mehrmals mit aus dem Gefängnis herausgeschmuggelten Briefen zu Wort gemeldet. Sie sei, schrieb sie zuletzt, von "30 bis 40 Polizisten verhaftet" worden. Die Haftbedingungen im Frauengefängnis Bakirköy seien unmenschlich, eine mit ihr verhaftete Frau habe sich die Pulsadern aufgeschnitten. Kollegen hatten unmittelbar nach der Verhaftung in Istanbul auf einer Pressekonferenz erfolglos ihre Freilassung gefordert. Dem schloss sich auch der PEN an.

"Journalismus ist kein Verbrechen"

PEN-Generalsekretärin Regula Venske reiste unlängst in die Türkei, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Sie sieht "rechtsstaatliche Grundsätze außer Kraft gesetzt". Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk warnte vor einem "Terrorregime" und sagte, die Gedankenfreiheit existiere nicht mehr. Jeder, der die Regierung kritisiere, werde eingesperrt.

Vierzig Schriftsteller und Intellektuelle fordern im Guardian ein Ende der Hexenjagd. Unter den Unterzeichnern des offenen Briefes sind neben Pamuk auch internationale Kulturgrößen wie Elena Ferrante, Hans Jürgen Balmes, John Berger und Russell Banks. Sie vergleichen die Lage in der Türkei und die Unterdrückung kritischer Geister mit der McCarthy-Ära in den USA. "Journalisten wie Sahin Alpay und Nazli Ilicak oder die Autorin Asli Erdogan sind wortstarke Verteidiger der Demokratie sowie Gegner von Militarismus und jeder Art von Tyrannei", schreiben sie.

Und auch die türkischen Journalistenvereinigungen schlagen Alarm: "Gegen 200 Journalisten ist Haftbefehl ergangen, 107 wurden festgenommen; durch die Schließung von Redaktionen wurden 2308 Journalisten arbeitslos. Außerdem werden sie zum Ziel haltloser Vorwürfe." Fast 800 Presseausweise wurden für ungültig erklärt. "Journalismus ist kein Verbrechen", heißt es weiter. "Journalisten sind die Stimme und das Gewissen der Menschen. Es ist die Aufgabe der Regierung, dafür zu sorgen, dass Journalisten ungehindert ihrer Arbeit nachgehen können."

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rangiert die Türkei momentan auf Platz 151 von 180. Und sie wird weiter abrutschen. Can Dündar hat seinen Posten als Chefredakteur der Cumhuriyet inzwischen niedergelegt und hält sich in Deutschland auf. Seiner Frau wurde in der Türkei der Reisepass entzogen. Sie darf das Land nicht mehr verlassen. Auf unabhängige Richter können die Inhaftierten nicht mehr hoffen. Die Verfassungsrichter, die im Februar 2016 die Untersuchungshaft für Dündar und Gül aufhoben, wurden entlassen.

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