Die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute vs. Oktopus Paul

Zweimal jährlich berichten alle Medien über die aktuellen Konjunkturprognosen - eine Analyse zeigt, dass diese nicht besser als der Zufall sind

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein beliebtes Versatzstück der öffentlich-rechtlichen Nachrichten ist die Verkündung von Zufallszahlen. Nein, nicht die als Service getarnte Glücksspielwerbung der Lottozahlenverkündung ist gemeint. Es geht um noch zufälligere Zahlen. Zahlen, die die Einschränkung: "Diese Angaben sind wie immer ohne Sinn und Verstand" verdient hätten, sie aber nicht bekommen: die Konjunkturprognosen.

Diese Berichte beginnen meist mit "Die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren ..." und enden mit einer schönen Zahl, ausgestattet mit einer Genauigkeit suggerierenden Dezimalstelle: "das im kommenden Jahr erwartete Wirtschaftswachstum, gemessen am Bruttoinlandsprodukt."

Die Medien pilgern zu diesen Orakelzeremonien, wo graue Männer mit grauen Krawatten ex cathedra die Zukunft bestimmen. Zwar finden sich in den Printmedien vereinzelt kritische Stimmen an diesem Ritual. Eine Konsequenz wird daraus jedoch nicht gezogen. Weder verzichten die Medien auf die Wiedergabe dieser Kaffeesatzleserei, noch wird der interessierte Bürger bei der Wiedergabe der Prognosen gewarnt: "Achtung, diese Prognosen sind nur Spielzeug und nicht als Schwimmhilfe geeignet. Treffen Sie keine Entscheidungen auf dieser Basis, erst recht keine wichtigen."

Die Daten

Aber der Reihe nach. In Deutschland gibt es zwei relevante Gremien, die Wachstumsprognosen abgeben: der Rat der sogenannten Wirtschaftsweisen und die gemeinsame Prognose der "fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute". Da Letztere ihre historischen Prognosen einfach lesbar im Internet anbieten, möchte ich diese hier dem harschen Licht der Realität unterwerfen. Online verfügbar sind die Frühlings- und Herbstgutachten seit 1999. Auch die jeweilig eingetretenen Wachstumszahlen der vorangegangenen Jahre sind enthalten.

Jedes Gutachten enthält eine Prognose für das laufende sowie das kommende Jahr. Im April und Oktober 2002 gibt es so jeweils eine Vorhersage für 2002 und eine für 2003. Insgesamt gibt es somit vier Prognosereihen mit Abständen von 3, 9, 18 und 21 Monaten zum Ende des vorhergesagten Jahres. Bei den beiden Vorhersagen mit kurzer Frist hat das Jahr natürlich schon angefangen, d. h., es sind teilweise schon Echtdaten enthalten. Hier möchte ich mich auf die längerfristigen Vorhersagen des jeweils nächsten Jahres konzentrieren.

Die Grafik zeigt einen Scatterplot der Vorhersagen (y-Achse) zum eingetretenen Wert (x-Achse). Der Punkt ganz links bedeutet z. B., dass ein Wachstum von 1,4% vorhergesagt wurde, real aber -5% eintrafen (2009). Bei perfekten Prognosen würden alle Punkte auf der eingezeichneten diagonalen Gerade x=y liegen.

Natürlich kann man von einer Prognose keine Perfektion erwarten. Zumindest einen gewissen Zusammenhang zwischen Vorhersage und Realität würde man sich aber schon wünschen, bei dem sich die Datenpunkte um die Gerade herum verteilen. Zu erkennen ist davon jedoch: nichts. Fast scheinen die Punkte sich um die entgegengesetzte Gerade zu scharen. Bei guten Konjunkturprognosen sollte man sich dann vielleicht Sorgen machen. (Link zur Datentabelle siehe unten)

Die Güte der Vorhersagen kann man auch berechnen. Am Verständlichsten ist die durchschnittliche Abweichung: die 21-Monats-Prognose liegt im Schnitt um 2 Prozentpunkte daneben - und das bei einem Wert, der lediglich zwischen -5% und +3% schwankt.

Der durchschnittliche Fehler ist ein sehr einfaches Maß. Wichtig für die Beurteilung der Vorhersagequalität sind aber nicht die kleinen Abweichungen von ±1 Prozentpunkt, sondern die großen Fehler. Denn gerade für große Konjunkturereignisse möchte die Politik als Auftraggeber ja gewappnet sein. Hierfür eignet sich ein anderes Maß, dessen genaue Berechnung ich hier auslasse. Dieser Wert liegt für die betrachteten Prognosen bei 2.61. Aus nicht näher interessanten Gründen kommt man damit auf ein sogenanntes Konfidenzintervall, das uns folgende Aussage erlaubt: Wenn die "fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands" eine Wachstumsprognose von 1% abgeben, bedeutet dies, dass das reale Wachstum wahrscheinlich im Bereich von -1.6% bis +3.6% liegen wird. Es gibt also entweder Rezession oder das höchste Wachstum der letzten zehn Jahre. Eine absolut nutzlose Vorhersage, die aber wenigstens nicht den falschen Anschein von Sicherheit weckt.

Oktopus Paul kann's besser

Richtig amüsant wird es, wenn wir Paul den Oktopus zum Konkurrenten der "fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands" machen. Paul wurde gerade der Ruhestand versprochen, daher ist er etwas faul und gibt als Vorhersage jeweils das Bruttoinlandsprodukt des Vorjahres an, also eine Stagnation mit exakt 0% Wachstum. Bewerten wir die Vorhersagen Pauls nun mit den gleichen Mitteln, erhalten wir einen Wert von 2.27 (Experten: 2.61). Der Oktopus trifft die Realität also besser als die "fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands". Erst bei der kürzerfristigen 18-Monats-Prognose liegt der Oktopus mit 2.27 leicht schlechter als die Experten mit 2.0.

Nun können die "5fWD" sich ungerecht behandelt fühlen. Schließlich war die Rezession 2009 nicht wirklich vorhersagbar. In den Gutachten z. B. der Wirtschaftsweisen wird auch immer ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Vorhersagen nur unter bestimmten, teils explizit genannten Bedingungen gelten. Die Prognosen dienen aber eben als Handlungsgrundlage in der realen Welt, die sich an diese Bedingungen nicht hält.

"Unvorhersehbare Ereignisse" sind tatsächlich nicht vorhersagbar - sie sind aber nicht wirklich außergewöhnlich oder selten: 1997: Asienkrise, 1998: Russlandkrise, 1999: Dotcom-Krise, 2001: Terroranschläge etc. Eine Vorhersage für's idealisierte volkswirtschaftliche Reagenzglas ist unbrauchbar. Keine Daten zu haben ist besser, als falsche Daten zu haben.

Die Handlungsempfehlung ist also nicht, die bestehenden Modelle zu verbessern. Dies wird seit 40 Jahren probiert, ist aber eben aussichtslos. Die Empfehlung lautet: Hört einfach auf! Es ist moralisch bedenklich, 40 Jahre wissentlich ein fehlerhaftes Produkt zu verkaufen. Wo die "Gutachten" aus mehr als nur der Konjunkturprognose bestehen, so wäre ich erstaunt, wenn diese weicheren Empfehlungen an die Politik qualitativ besser wären. Sie lassen sich nur nicht so gut testen. Mein Vorwurf ist nicht die Ungenauigkeit der Vorhersagen, denn solche sind schwierig - insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen. Mein Vorwurf ist, dass es überhaupt versucht wird.

Da wohl auch weiterhin fleißig prognostiziert werden wird, müssen die Medien die Verantwortung übernehmen. Es gilt, nicht weiter Jahr für Jahr wissentlich Falschmeldungen zu verbreiten. Da dies wohl im passenden Gremium nicht gut ankäme, sollte zumindest direkt bei der Verkündung darauf hingewiesen werden, dass die Prognosedaten in den Vorjahren höchstens Unterhaltungswert hatten.

Eingangs erwähnte ich, dass Konjunkturdaten vermutlich "noch zufälliger" als die Lottozahlen sind. Denn Lottozahlen sind zwar zufällig, aber beherrschbar. Alle Zahlen können mit gleicher Wahrscheinlichkeit gezogen werden. Es ist ein Spiel, dessen Regeln uns bekannt sind.

Die Regeln der Volkswirtschaft sind uns nicht bekannt. Selbst bei der Berechnung des Konfidenzintervalls weiter oben gehe ich von einer Normalverteilung der Konjunkturentwicklung aus, also dass diese Zahlen wie etwa die Körpergroße in einem beherrschbaren Rahmen um einen Mittelwert schwanken. In der Wirtschaft könnte diese Annahme bereits zu optimistisch sein, denn sie unterschätzt vermutlich die Gefahr von Großereignissen.

Material und Methoden: Alle Daten stammen von der Website des Ifo-Instituts. Ein Google-Dokument mit Daten und Berechnungen findet sich im Originalartikel in meinem Blog. Die Idee zu dieser Analyse kam mir bei der Lektüre des hervorragenden The Black Swan von Nassim Nicholas Taleb.