Türkei: "Die Situation eskaliert, wie alles dort eskaliert"

Hakkari, Yüksekova, Juni 2016 Bild: Nedim Yılmaz/CC BY-SA 2.0

Thomas Seibert von medico international über Repressionen gegen Hilfsorganisationen

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Die Absetzung der 28 demokratisch gewählten Bürgermeister durch die türkische Regierung hat offensichtlich auch Folgen für humanitäre Hilfsorganisationen. Dr. Thomas Seibert, Nahostreferent bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international, berichtet über die konkreten Auswirkungen im Telepolis- Interview.

In Ihrer Pressemitteilung sprechen Sie im Zusammenhang mit der Absetzung der BDP/HDP - Bürgermeister von Repressionen gegen Ihre Partner in der Südosttürkei. Wer sind Ihre Partner und welche Form der humanitären Hilfe leisten sie?

Thomas Seibert: Zum einen ist das der Rojava-Solidaritäts- und Hilfsverein, der ursprünglich mal entstanden ist, um von der Südosttürkei aus in den kurdischen Gebieten in Syrien Hilfe zu leisten. Mit den Ereignissen zum Jahreswechsel (gemeint sind die Kämpfe und Zerstörungen kurdischer Städte, Anm. d. Verf) und den Kampfhandlungen im Südosten der Türkei sowie dem Umstand, dass man sowieso nicht mehr direkt aus der Türkei nach Rojava kommt, leistet der Verein jetzt humanitäre Hilfe in den kurdischen Städten in der Türkei.

Es gibt drei Maßnahmen der Nothilfe: Lebensmittelhilfe war die erste Maßnahme, die wir lange Zeit gemacht haben, also wirklich originäre Nothilfe. Die Lebensmittelhilfe ist jetzt beendet. Im Moment geht es um die Bereitstellung dringend benötigter medizinischer Hilfe: sowohl Medikamente als auch Hygiene-Kits. Das Dritte ist die Bereitstellung von Hilfe beim Wiederaufbau zerstörter Häuser, also Baumaterialien, Fenster und Türen. Hinzu kommt noch eine andere Organisation, ein Anwaltsnetzwerk, da geht es im Wesentlichen um Klagen gegen die massenhaften Enteignungen (Zerstörtes Diyarbakir).

Wo genau leisten Sie humanitäre Hilfe in der Türkei?

Thomas Seibert: Lebensmittelhilfe haben wir in Diyarbakir, Silopi, Cizre, Nusaybin, Dargecit, Derik und Silvan geleistet, Bauhilfe in Yükesekova, juristischen Beistand gewähren unsere Partner in Diyarbakir-Sur, Hygiene-Kits werden in Sirnak verteilt.

Die konkreten Stufen der Repression

Welche Partner sind von den Repressionen betroffen? Wie muss man sich die Repressionen konkret vorstellen? Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?

Thomas Seibert: Die Situation eskaliert, wie alles dort eskaliert. Es fing an mit massiven Behinderungen, im Wesentlichen durch bürokratische Maßnahmen. Um sich das bildlich vorstellen zu können: Wir verfügen über eigene LKW. Dann wird von der zuständigen Polizei gesagt, die sind zu groß, die dürfen nicht verwendet werden.

Damit fallen die eigenen LKW aus und die Mitarbeiter müssen sich vor Ort kleinere LKW mieten. Die Polizei verfolgt das, am Abend bekommt der Vermieter der LKW einen großen Stapel Knollen (Strafzettel, Anm. d. A.). Das, was der Vermieter dann als Strafe zahlen muss, geht weit über das hinaus, was er an Miete einnimmt. Damit stoppt natürlich die Vermietung, die LKW sind weg. Das ist ein anschauliches Beispiel für "ordnungspolizeiliche" Maßnahmen. Die massivere Stufe, die hinzu kam, war und ist die Beschlagnahmung von Hilfsgütern. Die Spezialkräfte treten direkt am LKW oder Lager auf und beschlagnahmen die Hilfsgüter.

Diese werden dann einerseits von ihnen eingelagert und erst wieder ausgehändigt, nachdem unser Anwalt aufgetaucht ist. Dann waren die Hilfsgüter aber schon bis zu 2-3 Tage in der Verfügung der Polizei oder des Militärs (was bei Lebensmitteln problematisch ist, Anm. d. A.). Oder aber das Militär eignet sie sich schlichtweg an und verteilt sie nach eigenem Gutdünken als angebliche Hilfslieferung des Militärs.

Die nächste Stufe, die in den letzten beiden Wochen eingetreten ist, sind die Festnahmen von Mitarbeiten. Zwar ist niemand länger in Haft geblieben, alle sind wieder frei, aber es lag in keinem Fall ein Haftbefehl vor. Von allen Festgenommenen wurden die Handys einbehalten. Wir gehen davon aus, dass die Kommunikation geheimdienstlich ausgewertet wird. Über dem Ganzen schwebt eine Verbotsdrohung des Rojava-Hilfsvereins. Sie sollen als Hilfstruppe der kurdischen Opposition eingestuft und verboten werden. Darauf bereiten sich die Hilfsorganisationen im Moment vor.

Wo ist der Zusammenhang mit der Absetzung (Türkei: Umstrukturierung in den kurdischen Gebieten) der Bürgermeister in der Südosttürkei? Die Türkei behindert doch schon seit Jahren jegliche Hilfe von Nichtregierungsorganisationen im Südosten der Türkei.

Thomas Seibert: Die Stadtverwaltungen und die Bürgermeistereien waren in der Arbeit Kooperationspartner. Die abgesetzten, gewählten kurdischen Bürgermeister erlangten bei den letzten Kommunalwahlen zwischen 50 und über 80%. Jetzt sind unsere Partner in der Kooperation angewiesen auf die eingesetzten Gouverneure, die das natürlich gar nicht wollen. Jetzt gibt es ausschließlich Behinderungen.

Damit entfällt die gesamte Kooperation mit der kommunalen Selbstverwaltung, die natürlich eine kurdische Selbstverwaltung ist. Im Moment wissen wir nicht, ob die Absetzung der 28 Bürgermeister der äußerste Eskalationsgrad ist - der Ministerpräsident hat ja angekündigt, dass es zu weiteren Entlassungen kommt, oder ob das nur eine Zwischenstufe ist in der Eskalation und es weiter geht.

Das UN-Hochkommissariat hat eine eigene Untersuchungsabteilung eingerichtet

medico international unterstützt als NGO weltweit Projekte vor allem in Krisengebieten. Welche Unterstützung bekommen Sie von der Bundesregierung für ihre Arbeit? Gibt es Unterschiede in der Unterstützung der NGOs in der Türkei oder in Syrien,wo Sie ja auch aktiv sind, und anderen Regionen?

Thomas Seibert: Es ist ganz eindeutig: die Bundesregierung ist in keiner Weise bereit, mit den Teilen der Kurden zusammenzuarbeiten - und in dem Fall auch mit uns -, die in irgendeiner Weise in Verbindung mit der Opposition stehen. Die Bundesregierung ist aktiv, aber ausschließlich im Irak auf der Seite von Barzani. (Die kurdische Autonomieregion unter dem Stammesfürst Massoud Barzani im Nordirak unterstützt weder die Kurden in der Türkei noch in Nordsyrien, weil sie ein demokratisches föderales System ablehnt - Kurdische Autonomieregierung verweigert humanitären Helfern die Einreise nach Rojava), Anm. d.Verf.)

Es ist ganz klar, dass der Flüchtlingsdeal das deutsche Handeln bestimmt. Was extrem auffällig ist, dass es zwar immerhin Äußerungen gibt zu Repressionen gegen Wissenschaftler, Journalisten, Richter, Staatsanwälte in Istanbul und Ankara. Aber es gibt keine Äußerungen zu der Situation in den kurdischen Gebieten, obwohl das ja viel dramatischer ist. Von der Bundesregierung gibt es dazu praktisch keine Äußerungen.

Es gibt lediglich die erklärte Zustimmung zur Unterstützung der Türkei im Kampf gegen den Terrorismus, was faktisch auch den Kampf gegen die Kurden beinhaltet. Dasselbe sehen wir im Medienecho. Es gibt kritische Meldungen über die Situation der Opposition insgesamt in der Türkei, aber es gibt ein auffälliges Schweigen über die konkrete Situation in Kurdistan. Es ist auffällig, wie über die Situation der Wissenschaftler gesprochen wird und dass man hofft, dass es nun bald zu einer Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen kommt.

Das wird immer stark gemacht von der Bundesregierung. Aber es gibt ein Schweigen zur Situation in Kurdistan. Und das ist jetzt nochmal besonders auffällig, weil gerade die aktuelle Tagung des UN-Menschenrechtsrats eröffnet worden ist durch den UN-Hochkommissar für Menschenrechte. In seiner ausdrücklichen Rede zur Situation in der Türkei, kritisierte er in scharfen Worten, dass in der Türkei starke Menschenrechtsverbrechen vorliegen und dass diese fortgeführt werden.

Das UN-Hochkommissariat hat eine eigene Untersuchungsabteilung eingerichtet und hat die türkische Regierung aufgefordert, ihnen Zugang zu verschaffen, damit die Berichte (Geplante Terroranschläge in Düsseldorf: Die seltsame Geschichte des Saleh A.) überprüft werden können. Der UN-Hochkommissar hat keine Antwort bekommen. Dazu gibt es gar nichts in unseren Medien, es wird noch nicht mal gemeldet. Das ist die Spitze!

Herr Seibert, gibt es von medico international konkrete Forderungen an die Bundesregierung, wie sie Ihre Arbeit unterstützen könne? Und wie kluge deutsche Politik gegenüber Erdogan aussehen könnte?

Thomas Seibert: Also das Mindeste, das man von der Bundesregierung fordern kann, ist die Unterstützung der Forderung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Seid Raad al-Hussein. Und dass sie von den schweren Menschenrechtsverletzungen, den Kriegsverbrechen im Südosten der Türkei spricht.

Und, - aber da ist die Bundesregierung weit von entfernt, es müsste der Flüchtlingsdeal mit der Türkei sofort gestoppt werden. Man kann nicht mit einem Regime verhandeln, das sich erstens so gegenüber Flüchtlingen verhält, wie sie es tun (Türkei: Schachzüge mit Flüchtlingen) und zweitens selbst ja Flüchtlinge produziert. Aber hier ist man wie ein Rufer in der Wüste, man sagt das, aber es verhallt ungehört. Es ist offensichtlich, sie wollen an dem Flüchtlingsdeal festhalten, und es sieht alles danach aus, dass sie alles dafür tun werden.

Das hat man ja an der Armenien-Resolution gesehen, dass man zumindest symbolisch Erdogan entgegengekommen ist. Bundeskanzlerin Merkel hat das Dokument mit der Formulierung, es ist nur eine politische Bundestagsentschließung, die keinerlei Rechtsverbindlichkeit besitzt, herabgestuft. Das war natürlich die Vorlage für Erdogan. (Incirlik: Geschenke der Bundesregierung an Erdogan) Diese Haltung zeigt, dass sie den Deal um jeden Preis weitermachen wollen. Dabei hätte es genug Gründe gegeben, den Deal abzubrechen.

Es hat Bombardierungen gegeben, es hat Panzerbeschuss gegeben, es sind ganze Stadtteile weitgehend zerstört worden durch die militärischen Angriffe. Es hat danach ein Erdbodengleichmachen der Ruinen gegeben, ebenfalls großflächig, es hat Zwangsumsiedlungen gegeben, es hat rechtswidrige Enteignungen gegeben. All das hätte ausgereicht, zu sagen, wir stoppen den Flüchtlingsdeal, mit dieser Regierung kann man das nicht tun. Aber es ist nichts passiert vonseiten der Bundesregierung.

Türkei: Viele Geflüchtete leben auf der Straße

Gibt es große Unterschiede in der Haltung der einzelnen bundesdeutschen Parteien zu ihrer Arbeit? Gibt es hier vielleicht auch Dinge, die man im bevorstehenden Bundestagswahlkampf ansprechen sollte?

Thomas Seibert: Von den Regierungsparteien gibt es eigentlich nichts, keine Äußerungen, es gibt nur Stellungnahmen der Grünen und der LINKEN. Von den Regierungsparteien, aber auch von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wird zwar gesagt, dass es im Zuge des Putsches zu einer ganzen Welle von Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, aber es gibt dieses seltsame Schweigen beim ihm wie auch bei der Bundesregierung darüber, was in den kurdischen Gebieten passiert.

Es wird ja immer gesagt, die Türkei habe zwei Millionen Geflüchtete aufgenommen. Die EU bezahlt dafür Milliardenbeträge, damit die Geflüchteten dort auch bleiben. Aber letztendlich versorgt die Türkei laut Beobachtern doch nur ca. 250.000 Geflüchtete in ihren Camps. Die auch noch hoch umstritten sind, da sie als Rekrutierungsfeld für Dschihadisten gelten. Was ist mit dem Rest der Flüchtlinge? Es gibt im Südosten der Türkei Flüchtlingslager, die von den HDP - Stadtverwaltungen mit der Bevölkerung organisiert wurden. Was passiert mit ihnen, wo sie jetzt den AKP-Statthaltern unterstehen?

Thomas Seibert: Das ist eine offene Frage. Ich kann Ihre Einschätzung unterstützen. Viele Geflüchtete leben auf der Straße und sind in einer ganz prekären Situation, müssen unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Aber es gibt dazu keine Untersuchungen vor Ort.

Gibt es Unterstützung von anderen europäischen Regierungen zu ihrer Arbeit in der Türkei und Syrien?

Thomas Seibert: Nicht wirklich. Es gibt diese Erklärung des österreichischen Außenministeriums, die hat aber mehr mit österreichischer Innenpolitik zu tun. Sie diente weniger der Situation der Menschen in der Südosttürkei, sie diente eher dem österreichischen Wahlkampf. Natürlich hat der österreichische Außenminister mit seiner Einlassung (Keinen Türkei-Deal um jeden Preis, Anm. d. A) definitiv recht.