"Justin-Bieber-Videos werden am häufigsten als Hass eingestuft"

Justizminister Maas und EU-Justizkommissarin Věra Jourová ziehen eine Zwischenbilanz ihrer Bemühungen gegen "Hate Speech"

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Heute teilte die YouTube-Vertreterin Juniper Downs auf einer Zwischenbilanz-Veranstaltung des deutschen Bundesjustizministeriums zu Maßnahmen gegen "Hate Speech" mit, dass die Inhalte, die am häufigsten als "Hass" gemeldet werden, Videos des Sängers Justin Bieber sind.

Sind alle diese Meldungen reiner Scherz? Nicht unbedingt. Unterschiedliche Menschen regen sich über Unterschiedliches auf: Und viele fühlen sich von Teilen der aktuellen Popmusik oder ARD-Degeto-Produktionen tatsächlich stärker belästigt oder beschmutzt als von Facebook-Usern, die Grünen-Politiker als "Trampel" bezeichnen (vgl. Link auf 49507 ). Wegen solch unterschiedlicher Geschmäcker und Sensibilitäten gilt in freiheitlichen Demokratien der Grundsatz der Meinungsfreiheit, der vielen Verfassungen nach nur dann eingeschränkt werden darf, wenn der Schutz vorrangiger Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit dies zwingend erfordert - zum Beispiel dann, wenn ein salafistischer Prediger mit extremistischer Anhängerschaft dazu aufruft, einen Karikaturisten zu töten.

Jourová "versteht Kritik nicht"

In Europa haben in den letzten Jahren immer mehr Menschen den Eindruck, dass die Meinungsfreiheit auch dann eingeschränkt wird, wenn es nicht notwendig ist. Bürgerrechtsorganisationen wie die Initiative European Digital Rights (EDRi) kritisieren beispielsweise, dass die EU-Kommission einen Verhaltenskodex veröffentlichte, der vorsieht, dass "anstößige" oder "widerwärtige" Äußerungen innerhalb von 24 Stunden gelöscht werden sollen. Dass das nicht durch ordentliche Gerichte geschehen soll, weist ebenso wie die sehr unscharfen Formulierungen darauf hin, dass die Kommission dabei nicht nur strafrechtlich relevante Inhalte im Auge hat (auch wenn an anderer Stelle von "illegalem Betragen" die Rede ist (vgl. Link auf 48697 ). EU-Justizkommissarin Věra Jourová meinte gestern, sie verstehe solche Kritik überhaupt nicht.

Bundesjustizminister Heiko Maas kritisierte, YouTube und Facebook würden zwar zu zu 97 Prozent innerhalb von 24 Stunden löschen, wenn sich staatlich privilegierte Stellen über Inhalte beschweren, aber auf die "normalen User" würden sie mit Entfernungsquoten zwischen einem und 46 Prozent "deutlich zu wenig" einschreiten. Ob er Justin Bieber nicht mag oder warum er sonst zum Schluss kam, das sei zu wenig, ließ er offen.

Auch zu Fällen wie dem zeitweisen Löschen der Facebook-Seite von Anabel Schunke schwieg Maas. Ihr konnte man zwar Regierungskritik, aber keineswegs strafbare Inhalte nachweisen, was auch Facebook zugeben musste, nachdem die Süddeutsche Zeitung den Fall aufgriff und die NZZ schrieb, in Deutschland werde offenbar "mit staatlichem Geld und regierungsamtlicher Billigung gegen alles vorgegangen, was nicht auf Linie ist" (vgl. Link auf 49266).

Misstrauen gegen Kampagne

Zu diesem Eindruck trugen nicht nur Maas' Justizministerium und Manuela Schwesigs Familienministerium bei, sondern auch das Bundesinnenministerium, das auf Twitter im Zusammenhang mit der "Hate-Speech"-Definitionsfrage verkündete, eine Meinung dürfe man nur "sachlich und ohne Angriffe" äußern. Solch eine Einschränkung verstößt nicht nur gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht, das 1990 explizit bestätigte, dass es "unerheblich ist, ob [eine] Meinung emotional oder rational begründet ist" (BVerfG 1 BvR 389/90), sondern betrifft auch weite Teile der Literatur vergangener Jahrhunderte, die ihre Qualität gerade aus Unsachlichkeit bezieht - zum Beispiel Heinrich Heines Angriffe auf Graf Platen. Von den politischen Reden eines Franz-Josef Strauß oder eines Herbert Wehner ganz abgesehen.

Der Twitter-Account der von der Bundesregierung und Google geförderten Anti-"Hate-Speech"-Kampagne "#NichtEgal" behaupete ähnlich rechtslagefern, jede "persönliche Verletzung" sei verboten, was ihr in Sozialen Medien ein weitgehend negatives Echo bescherte. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) schrieb dazu: "Es herrscht ein Klima, in dem viele der Kampagne nicht einmal abnehmen, dass sie 'gut gemeint' ist, und die Auswahl der Protagonisten hilft nicht unbedingt, ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Zu diesen Protagonisten gehören beispielsweise die YouTube-Selbstdarsteller "DagiBee" und "BiggTasty". "DagiBee" beschimpfte eine Kritikerin unter anderem als "nerviges Blag" und "BiggTasty" drohte sogar: "Irgendwann treffen wir uns. Dann werde ich dir zeigen was kleine Spastkinder wie du für ihre große Fresse bekommen."

Tilo Jung stellt Fragen, Ministeriumsvertreter "antworten. Screenshot: Jung&Naiv

Weil er "noch nicht da [ist], wo wir hinwollen", lässt Maas den auf Facebook, YouTube und Twitter outgesourcten Kampf gegen "Hate Speech" bis März durch die staatliche Kontrollstelle Jugendschutz.net überprüfen. Die forderte letzte Woche "Pornofilter" in Browsern und Betriebssystemen, was auf noch deutlich mehr Misstrauen stößt als die #NichtEgal-Kampagne: Ist die Technik dafür nämlich erst einmal implementiert, lässt sie sich problemlos für den Kampf gegen politische Inhalte einsetzen.