Schäuble: "Zum Wir gehören die allermeisten Muslime in Deutschland"

Şehitlik-Moschee in Berlin, 2012. Bild: Avda/CC BY-SA 3.0

Der Bundesfinanzminister plädiert für die Entwicklung eines deutschen Islams

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Die Kanzlerin hatte nach den Wahlniederlagen ihrer Partei - und den Erfolgen der AfD - angekündigt, die Flüchtlingspolitik besser zu erklären. Sie geht davon aus, dass die Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik, womit die meisten Analysen die "Wahlklatschen" erklärten, wie auch das schwindende Vertrauen in die Lösungskompetenz der Regierung, wie dies Umfragen zeigen, vor allem mit einer ungenügenden Vermittlung der Politik zu tun hat. Eine bessere Erklärung führt zu mehr Verständnis, lautet der Ansatz.

Vieles spricht dafür, dass der Artikel von Wolfgang Schäuble, der heute in der Springer-Sonntagszeitung WamS unter dem Titel "Damit der Islam zu Deutschland gehört" veröffentlicht wird auch zu dieser "Besser-Erklären-Initiative" gehört - auch wenn er das 10-jährige Bestehen der Islamkonferenz zum Aufhänger nimmt. So taucht an zentraler Stelle einer der Hauptsätze des Merkelschen Framings der Flüchtlingspolitik auf, auf den sie stets verweist, wenn sie sich gegen die Politik der geschlossenen Grenzen stellt:

Wir müssen uns den Wanderungsbewegungen unserer Zeit stellen. Veränderungen kommen ohnehin auf uns zu in der Welt, in der Europas Bedeutung nicht zunimmt, es aber doch attraktiv für andere bleibt. Zuwanderung ist Teil dieser Veränderung durch die Globalisierung.

Wolfgang Schäuble

Am Ausschnitt zeigt sich schon der Grundzug des Artikels ins Allgemeine, der den Beitrag Schäubles kennzeichnet. Auf seine Wortmeldung trifft vieles zu, was man unter Sonntagsrede versteht. Es lässt sich nicht viel Konkretes und Verbindliches darin finden. Das ist umso bedauerlicher, da man doch immer wieder Schäubles Realismus, sein Bezug aufs Konkrete loben hört. Auch wenn Schäubles Sicht auf die Wirklichkeit mit dogmatischen Zügen viele nicht teilen wollen, wie an der griechischen Schuldenkrise sehr deutlich zu sehen war.

Schäubles Modifikation

Sein Gefühl für Realismus, der immer Machtverhältnisse im Auge behält, zeigt sich ansatzweise, aber ziemlich diskret, auch in seinem Beitrag zum Islam in Deutschland. Schäuble hatte schon vor dem früheren Bundespräsidenten Christian Wulff den Satz geäußert: "Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas". Das war 2006.

Şehitlik-Moschee in Berlin, 2012. Bild: Avda/CC BY-SA 3.0

Jetzt in Zeiten aufgeschaukelter Debatten modifiziert Schäuble etwas. Er spricht nun von den "allermeisten Muslimen", die zum "deutschen Wir" gehören.

(…) Und natürlich sind der spätestens seit diesem Sommer auch in Deutschland angekommene islamistische Terrorismus, sexuelle Übergriffe durch Migranten oder Flüchtlinge genauso wie die zunehmenden fremdenfeindlichen und rassistischen Ausschreitungen eine zusätzliche Belastung der Atmosphäre. Die Frage, was das mit dem Islam zu tun hat, wird nicht verschwinden. Die Debatte wogt hin und her.

Entscheidend bleibt , dass wir - und zu diesem Wir gehören die allermeisten Muslime in Deutschland - beides nicht wollen, dass wir übereinstimmen, dass beides aufhören muss.

Wolfgang Schäuble

Wir unterscheiden viel zu wenig, mahnt Schäuble schon zu Anfang seines als Essay titulierten Beitrags. Die Debatte sei unsortiert. Alles werde vermengt, Flüchtlinge, Zuwanderer und Muslime. Wobei er bei den Muslimen weiter unterscheidet und dabei ein wichtiges Label-Phänomen anspricht: Auch diejenigen, die schon länger hier und integriert sind, würden sich "in gewisser Weise wieder zurücksortiert fühlen".

Schäuble: Förderung der Entwicklung eines deutschen Selbstgefühls

Schäuble will beim Selbstgefühl ansetzen. Das deutsche Selbstgefühl der hier lebenden Muslime soll gefördert werden durch die Förderung der Entwicklung eines deutschen Islam. Was ein deutscher Islam sein soll, weiß niemand, auch Schäuble nicht, also stellt er dem Begriff ein paar sonntägliche Kleider zur Seite:

Wir wollten und wollen, gerade angesichts der vielfältigen Herkunft der Muslime in Deutschland, die Entwicklung eines deutschen Islam fördern, die Entwicklung eines Selbstgefühls der hier lebenden Muslime als Muslime in Deutschland, in einer freiheitlichen, offenen, pluralen und toleranten Ordnung (…)

Wolfgang Schäuble

Wie er sich das Selbstgefühl in Deutschland vorstellt? Schäuble spricht von einem "Gefühlten im Alltag", da es ja nicht immer um Grundgesetz und Strafrecht ginge.

Die meisten Menschen, würden "einfach möglichst so leben wollen wie bisher auch: sich wohlfühlen in ihrem Alltagsleben", erklärt Schäuble. Er appelliert, mehr Selbstbewusstsein zu zeigen, wenn es um die "Bewahrung der Lebensweise" gehen. Es müsste "uns schon anzumerken sein, was wir meinen, wenn wir von 'unserer Lebensweise' sprechen".

Das nimmt Schäuble nun zum Anlass, um ein konservatives Bekenntnis zu Respekt und Autorität einzufordern - von allen in Deutschland.

Ich glaube, wir haben einigen Nachholbedarf, was manche Verwahrlosung unseres öffentlichen Raumes und unseres gesellschaftlichen Miteinander-Umgehens betrifft, ganz unabhängig davon, von wem genau, mit welcher Herkunft, sie ausgeht.

Das Allermeiste, was wir in unserer Gesellschaft eigentlich nicht wollen, erleben wir auch von Bürgern mit ziemlich wenig Migrationshintergrund - von mangelndem Respekt gegenüber Lehrern oder Polizisten bis hin zu abstoßendem Verhalten ganz allgemein in der Öffentlichkeit.

Wolfgang Schäuble

Man kann davon ausgehen, dass Schäuble mit seinem Essay und der Forderung nach Respekt vor deutschen Amtsträgern und Lehrern ein ihm wohlgefälliges Publikum im Bürgertum erreicht und sich Islamverbände nett angesprochen fühlen, aber die Jüngeren dürfte er damit kaum erreichen. Die Frage ist, ob Islamverbände die Jüngeren noch erreichen. Von ihnen ist zur sache "deutscher Islam" ohnehin wenig Substantielles zu vernehmen, dass auf eine Neujustierung angesichts veränderter Umstände hinweist. Es ist nur alte Rhetorik.

In Frankreich hat kürzlich ein Vertreter eines muslimischen Verbandes darauf hingewiesen, dass es nötig wäre, die "Software des muslimischen Diskurses" zu verändern, und die Vertreter der muslimischen Gemeinden aktiv auf neue Fragestellungen eingehen müssten.