Frieden und Querfront-Kriege

Eine Erwiderung auf den Beitrag "Der Friedenswinter ist tot! Es lebe der Friedenswinter!"

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Es gibt keine Insel der Seligen mehr weder in der Nähe noch anderswo auf dem Planeten. Über kurz oder lang wird wohl auch jeder Linke die Erfahrung machen müssen, dass die antidemokratischen und menschenfeindlichen Strömungen der Gegenwart im eigenen Bekanntenkreis oder in der Verwandtschaft angekommen sind.

Brückenbauer in allen - wirklich allen - Lagern wagen sich aus den Startlöchern. Offenbar will man den Verführten und den Aufgehetzten signalisieren, dass man gerne zu Gesprächen mit der Hetzerprominenz bzw. dem parlamentarischen Arm des völkischen Lagers vor die Kamera tritt. Erschreckend ist, dass zahlreiche Leute, die es besser wissen könnten, die Gewaltbereitschaft der neuen völkischen Szenen weiterhin verharmlosen. Wie viele Brandsätze vor Moscheen und Flüchtlingswohnungen müssen es denn sein, um vom Ernstfall sprechen zu können?

Demokraten werden zur Zielscheibe von Hass, Drohung und Attacke. Aber im bürgerlichen Spektrum findet der Aufruf, sich selbstbewusst und mit geradem Rückgrat zu solidarisieren, wenig Echo. Man gibt stattdessen lieber zum Besten, es werde in der Republik ja endlich wieder "kontrovers" diskutiert!

Aufruf zur Demo am Samstag

Doch angefangen beim wegbereitenden SPD-Brandstifter Thilo Sarrazin, über die bayerisch-"christlichen" Abendland-Populisten (mit anti-weltkirchlichem Standort) bis hin zur deutschnationalen - prokapitalistischen - AfD teilen sie ja alle die neoliberalistische Verachtung der Besitzlosen und Elenden. Die belobigte "Kontroverse" kann sich also nur auf die Frage beziehen, ob der im Grundgesetz beurkundete bürgerlich-zivilisatorische Minimalkonsens noch gelten soll.

Friedensbewegung als Vorzugsort für rechte Brückenbauer?

Auch wenn es einige CDU-Leute scheinbar nicht mitbekommen, man ruft seit längerem dazu auf, die Kanzlerin zu hängen. Die Gespenster der Rechten sind schon weit in den Alltag vorgedrungen und wirken hinein in alle gesellschaftlichen Bereiche. In einem Beitrag vom letzten Sonntag (Der Friedenswinter ist tot! Es lebe der Friedenswinter!) möchte Birgit Gärtner speziell auf entsprechende Gefahren für die "etablierte" bzw. "alte" Friedensbewegung aufmerksam machen. Ich teile ihr Grundanliegen (Kritik an jeglicher "Querfront"-Strategie), kann jedoch nicht entdecken, wie dieser Beitrag nun einer fairen und weiterführenden Diskussion dienlich sein soll.

Fast alle unappetitlichen Mitteilungen im Artikel stammen aus dem Jahr 2014, aus der heißen Zeit der Montagsmahnwachen. Sie sind in der "alten Friedensbewegung" gründlich zur Kenntnis genommen worden und haben zu scharfer Kritik geführt. Neueren Datums ist die Mitteilung zur Annahme des Bautzner "Friedenspreises" durch eine Einzelperson, wozu im angefügten Interview mit Otmar Steinbicker eine Kritik folgt, die ich für sehr berechtigt halte. Doch rechtfertigen es diese beiden Säulen der Darstellung, die Berliner Friedensdemonstration am Samstag schon vorab in die Nähe von "Querfront"-Phänomenen des Jahres 2014 zu rücken?

Aussagekräftig für die Intention der Demonstration ist zunächst die Liste der erstunterzeichnenden Zusammenschlüsse und Organisationen. Aus diesem Kreis der Veranstalter kommt gleich in der Kopfleiste zur Website folgende Klarstellung, die Birgit Gärtner nicht zitiert:

Wir treten ein für eine solidarische und friedliche Welt in der Vielfalt eine Stärke ist. Auf unserer Demonstration gibt es keinen Platz für völkische Ideologien, Rassismus und Rechtspopulismus.

friedensdemo.org

Das klingt nun nicht gerade nach einer neuen Querfront-Symbiose "Friedensbewegung 3.0". (Besser wäre es freilich gewesen, diesen Satz direkt im Aufruf zu platzieren.) Wenn man im Internetzeitalter zusätzlich über Netzformulare die Möglichkeit bietet, Demonstrationsaufrufe namentlich - oder auch finanziell - zu unterstützen, stellt sich die Frage, wie man praktikabel unwillkommene Unterstützer fernhalten soll.

Müsste man für den offenen Kreis von Netzunterschriften nicht z.B. einen Vorbehalt formulieren? Sollte man gar auf solche "Formulare" ganz verzichten, wenn kein Personal zur "Einzelprüfung" jeder Unterschrift angestellt werden kann? Das Phänomen "ungeladener Gäste" gab es immer schon und in allen Protestbewegungen - auch zu einer Zeit, als Unterschriftenlisten in Papierform noch die Regel waren.

Im Übrigen ist es natürlich zu erwarten, dass in Berlin auch Einzelpersonen oder sogar einige Gruppen mit Label "Friedensbewegung" sich einreihen werden, die den Grundkonsens der Veranstalter ganz und gar nicht teilen. Das kennen wir - nicht erst seit den Massenprotesten gegen die neuen Freihandelsregime, die ein Bestandteil der militärisch abgesicherten Welt-Unordnung sind. Sollte man deswegen als Pazifist am Samstag allen Ernstes am Schreibtisch sitzen bleiben und nicht nach Berlin fahren? Ich denke gar nicht daran.

Kooperation für den Frieden

Vor Ort lässt sich dann auch am besten beurteilen, ob die Verdachtsdiagnose "Friedensbewegung 3.0" mehr ist als ein Konstrukt. Für Berlin gelten inhaltliche Kriterien! Die Veranstalter beklagen in Mailings "fortdauernde regionale Kriege, globale Kriegsgefahr, Zunahme von Rassismus und Nationalismus". Die herrschende Politik verbreite "Tod, Vernichtung, Perspektivlosigkeit und Hass". Unsere Welt könne "sich weitere Kriege nicht mehr leisten". Wie wahr.

Die aufrufende "Kooperation für den Frieden" zählt über 50 Mitgliedsorganisationen, die sich in besonderer Weise um ein Anliegen kümmern, das laut Verfassung eigentlich zu den obersten "Staatszielen" gehören soll. Diese Organisationen repräsentieren ein Bewegungsspektrum, das für das globale Menschenrecht einsteht, eine gerechte Weltwirtschaft als Bedingung des Friedens betrachtet und sich ohne "Aber" mit den Flüchtlingen im Land solidarisiert.

Es gibt bei den bekannten Verbänden - von der DFG-VK bis hin zu den christlichen Friedensorganisationen - keinen "Pro-Putinismus", sondern vielmehr die Zivilisationsperspektive einer gemeinsamen Welt jenseits von Machtblöcken, Hegemonie und "militärbasierter" Interessens-Politik. Mitnichten wird Kritik an Russlands Führung erst seit September vorgebracht.

Dass die NATO als das mächtigste Kriegsbündnis der Erde im Zentrum der Kritik steht, mag nicht jedem gefallen. Es zeigt aus meiner Sicht, dass die Bewegung in den letzten Jahrzehnten mit offenen Augen durch die "Weltgeschichte" gegangen ist. Die Neurechten sehen freilich unser Land als unfreien Vasallen der USA an.

Die "alte Friedensbewegung" bezeichnet hingegen das NATO-Mitglied Deutschland als eine einflussreiche Wirtschaftsmacht, die die Welt unverdrossen mit Kriegswaffen beliefert, selbst Krieg führt und von der Präambel des Grundgesetzes nicht mehr viel wissen will.

Die "Altenherren-Riege" vom Kasseler Friedensratschlag

Birgit Gärtner meint, die Friedensbewegung habe sich das Motto "Die Waffen nieder!" bei Bertha von Suttner entliehen - ganz so, als stehe die Bewegung nicht mehr in Verbindung mit dieser bekannten Leitgestalt und der langen Wirkungsgeschichte des Aufrufs. Der Bundesausschuss Friedensratschlag , der auch nach Berlin einlädt, wird in ihrem Beitrag zudem als "Altherren-Riege in Kassel" bezeichnet, was wohl kaum als Ausdruck von Wertschätzung gemeint ist. Hier nun scheint ihr der Friedenskurs offenbar zu links angelegt zu sein.

Ich erlaube mir an dieser Stelle, den "Kasselern" meine Dankbarkeit und Wertschätzung auszusprechen. Wer sonst noch hat in den letzten Jahrzehnten so beharrlich darüber aufgeklärt, dass wirklich alle großen Kriegsschauplätze mit ökonomischen und geostrategischen Interessen zusammenhängen?

Derweil reihten sich viele Nutznießer jener Partei, die Pazifisten in den 1980er Jahren nach oben gebracht haben, ein in die Riege der Märchenerzähler vom "humanitären Krieg" und vergaßen auch, was "rechts" und "links" ist. Friedensforscher, die wie z.B. Werner Ruf den "Kasselern" verbunden sind, legen aus meiner Sicht die hilfreichsten Veröffentlichungen für ein breites Verständnis des Kriegsgeschehens der Gegenwart vor. Gottlob, es gibt sie noch, die "alten Herren" und auch die "alten Damen".

Zukunft der Friedensbewegung: Aufklärung und attraktive Bilder

Wir leben in einer Welt des Irrationalismus, in der weniger als 100 Einzelpersonen mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung und in der ein Riesenteil der materiellen wie geistigen Ressourcen der Weltgesellschaft der Todesapparatur des Krieges zufließt. Wenn die Dinge nachweislich so stehen, warum sollte man da noch irgendwelche anderen Verschwörungen herbei phantasieren?

Der Irrationalismus wird jedoch massenkulturell gefördert. Bei ihm suchen leider auch viele ihre Zuflucht, die den militärischen Heilslehren keinen Glauben mehr schenken. Das ist in der Tat ein großes Problem.

Friedensbewegung bleibt hingegen der Aufklärung verpflichtet. Das ist ein undankbares Erbe, da doch allenthalben "Wahrheiten" im Twitter-Format kursieren und Kritiker gar einfordern, kurze Aufruftexte müssten die Komplexität des Weltgeschehens einfangen. Es bleibt freilich auch dabei, dass es nach dem "Erklären" darauf ankommt, die Welt zu verändern. Welche linke oder pazifistische Bewegung wüsste hierbei nichts von der Herausforderung, sich ganz neu zu erfinden?

An die Friedensproteste der "Achtziger" kann vermutlich wirklich nicht mehr angeknüpft werden. Trotzdem lässt sich die Friedensbewegung ganz ohne Protest auf der Straße schwer denken. Moralpredigten - seien sie sozialistisch, humanistisch oder christlich - werden die betrüblichen Verhältnisse der Gegenwart allerdings nicht wandeln.

Wie schon einmal in der neueren Geschichte liegt die hegemoniale "Bildmächtigkeit" bei der Rechten und den Agenten der Gewalt. Wo zeigen sich attraktive - antidepressive - Bilder für eine Welt ohne Elend, Krieg und Rassismus? Ich werde Ausschau halten am Samstag - in Berlin.