Kampf der "Deutschomanie"

Lamya Kaddor bei Birlikte 2016: Dialogmarathon am 5. Juni 2016 in Köln. Bild: Raimond Spekking/CC BY-SA 4.0

Solidarität mit Lamya Kaddor

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Die deutsche Islamwissenschaftlerin und Publizistin Lamya Kaddor hat mit Die Zerreissprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht ein enorm wichtiges, kritisches und mutiges Buch geschrieben, aufgrund dessen sie jetzt Morddrohungen von ganz normalen "besorgten Bürgern", ergo: rassistischen Deutschen bekommt. Sie hat deshalb vorübergehend ihren Schuldienst als Islamlehrerin bis nächsten Sommer ausgesetzt.

Kaddor sagt: "Wir haben ein Rassismusproblem in Deutschland. Lasst uns endlich öffentlich darüber reden." Kaddor wurde in Westfalen geboren. Ihre Eltern sind vor Jahrzehnten aus Syrien eingewandert. Sie ist eine junge, weibliche, muslimische Deutsche und Gründungsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes.

Lamya Kaddor geht in ihrem Buch auf die Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik ein, so z.B. auf einen Spiegel-Titel: "Die Türken kommen - rette sich wer kann" (31/1973). Schon damals gab es rassistische (wie antisemitische) Witze: "Was unterscheidet einen Juden von einem Türken? - Die einen haben es hinter sich". Oder "Sinkt ein Schiff mit tausend Türken an Bord, ist es ein Unglück. Können alle schwimmen, ist es eine Katastrophe."

Im "Heidelberger Manifest" vom 17. Juni 1981 warnten Hochschullehrer unter Rückgriff auf die völkischen Theorien der Zwischenkriegsjahre vor der "Unterwanderung" und "Überfremdung" des deutschen Volkes. Bezeichnenderweise gehörte zu den Unterzeichnern auch Professor Theodor Oberländer, der Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte von 1953 bis 1960 und später Bundestagsabgeordneter der CDU.

Lamya Kaddor

Sie geht auch auf die Karrieren anderer Nazis wie Wilhelm Beiglböck ein, der Menschenversuche mit "Zigeunern" während der Nazizeit gemacht hatte und später zum Pharmakonzern Boehringer Ingelheim wechselte. Ebenso erwähnt Kaddor die Nazikarrieren von Kurt Georg Kiesinger, Hans Filbinger und auch die Tatsache, dass Walter Scheel in der NSDAP war, was alles nichts Neues, aber bemerkenswert ist. Sie resümiert:

Gerade für eine "neue" Deutsche wie mich, die die Zeit des Nationalsozialismus nicht selbst erlebt hat und deren Familie auch nichts damit zu tun hatte, weil sie damals noch gar nicht im Land war, ist es absolut sonderbar zu erfahren, dass bereits 1958 der letzte NS-Verbrecher - unter denen, die nicht zum Tode, sondern zu teils lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden - begnadigt worden ist.

Lamya Kaddor

Der Suhrkamp-Autor Hermann L. Gremliza spricht sich 2016 in seinem Band "Haupt- und Nebensätze" gegen die deutschen Zustände aus und kritisiert auch Angela Merkel, da sie vor Jahren noch der Agitation gegen "Multikulti" gerade Auftrieb gegeben hatte:

Damals, 2010, hatte die Kanzlerin den Mob scharf gemacht: ‚Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!‘ Was ‚Multikulti‘ ist, können 99 Prozent der Landsleute, die Rednerin eingeschlossen, nicht sagen, was die Rede bedeuten soll, wissen alle nur zu gut: Ausländer raus!

Hermann L. Gremliza

Und was sagt Kaddor zur Kanzlerin?

Ich verspüre Anfang 2016 einen Respekt gegenüber Angela Merkel, den ich mir zuvor nicht hätte träumen lassen, nachdem ich sie aufgrund ihrer Volten - vor allem bei der Energiewende - oder ihres penetranten Schweigens zu vielen entscheidenden Dingen eher für einen Machtmenschen ohne persönliche Überzeugungen gehalten hatte. Doch nun stellt sie sich gegen große Teile der eigenen Partei, nahm Verluste in der Wählergunst hin, musste sich harten Attacken aus der Schwesterpartei CSU erwehren und ging doch konsequent ihren eingeschlagenen Weg weiter.

Lamya Kaddor

Gegen den "organisierten Hass"

Kaddors Buch ist ein lauter, mutiger, zorniger Aufschrei gegen die, wie sie es nennt, "Deutschomanie", die nicht rechtsradikal und gewaltbereit sein möchte, aber genau das ist. Thilo Sarrazins Millionenbestseller "Deutschland schafft sich ab" von 2010 sei dabei ein Stichwortgeber gewesen.

Sicherlich zu naiv ist ihre Einschätzung der deutschen Fußballnationalmannschaft, die sie mag. Denn ohne das nationale Apriori von 2006 würde es heute nicht derart obsessiv und massenhaft deutsche Fahnen all überall geben. Diese Fahne ist auch das Symbol von Pegida und AfD, neben anderen Fahnen und Symbolen, und macht das Leben in Deutschland seither regelmäßig alle zwei Jahre im Sommer völlig undenkbar, alle sind im nationalen Rausch, von dem Pegida und AfD profitieren, trotz des Rassismus gegen Boateng und Özil etc.

Dabei hat Kaddor die stolzdeutschen Hetzer sehr richtig im Fokus:

Die Stimmen dieser Gruppe, dieser Menschen und ihrer Sehnsucht nach den "Deutsch-Deutschen" dürfen wir nicht überhören, diese Menschen dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Sie sind heute eine der Hauptgefahren für Frieden und Freiheit und Demokratie in diesem Land. Was viele von ihnen betreiben, ist nicht weniger als: organisierter Hass. Hass ist ihr Antrieb und auch ihr Mittel. Mithin ist dieses Buch ein Appell an die Politik, endlich den nötigen Mut aufzubringen, sich mit dieser gesellschaftlichen Gruppe der "Deutschomanen" auseinanderzusetzen. Unsere Demokratie ist in Gefahr.

Lamya Kaddor

2015 untersuchte Lamya Kaddor in ihrem Buch "Zum Töten bereit: warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen" den Islamismus. Angesichts der islamistischen Massenmorde und Anschläge des 11. September, von Madrid und London schreibt sie:

Und es blieb nicht beim Angriff von 9/11, wir erinnern uns an die islamistischen Anschläge von Madrid oder London. In den Ländern Europas ist die Bedrohung ebenfalls seit längerer Zeit ganz konkret. Spätestens seit diesen Ereignissen hätten wir uns als Muslime mit der politischen und gefährlichen Dimension des islam viel stärker auseinandersetzen müssen.

Lamya Kaddor

Sie setzt ganz klar, dass die "Religiosität des Einzelnen ist Privatsache und sollte es auch bleiben". Schon 2015 schrieb Kaddor: "Wir Deutschen haben ein Rassismus-Problem. Eher latent vorhanden als grassierend, mal richtet es sich verstärkt auf Sinti und Roma, dann wieder mehr auf Muslime. Auf hohem Niveau relativ konstant bleibt der Antisemitismus."

2016 in "Die Zerreissprobe" analysiert Kaddor primär den deutschen Rassismus, doch auch hier wendet sie sich an Muslime und fordert ein liberales Verständnis von Muslim-Sein ein: "Man muss sich gewahr werden, dass man hier in Schwierigkeiten gerät, wenn man als Mann oder als Frau dem jeweils anderen Geschlecht den Handschlag zur Begrüßung verweigert."

Sie zieht den Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der Universität Bremen heran, der das CSU-Gerede von "Obergrenzen" von Flüchtlingen oder Seehofers Wort, man "werde [sich] 'bis zur letzten Patrone' gegen Einwanderung in die Sozialsysteme wehren", das durchaus "Gewalt gegen Migranten" evozieren oder tolerieren könne, analysiert und kritisiert hat.

Lamya Kaddor hat die großen Linien der politischen Kultur und des Rassismus in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren im Blick. Sie kritisiert die Verharmlosung der AfD-Wähler, die in der Tat häufig von "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" (egal. ob man diesen Begriff nun für sinnvoll hält oder eher nicht) geprägt seien. Ja, viel mehr noch, wie Hermann L. Gremliza schreibt: "Keiner - bis auf ein paar Freaks und mich, Leute, die allen stolzen Deutschen als bösartig oder verrückt gelten - nennt die AfD, ihre Wähler oder die Pegida, was klingt wie Napola, Nazis."

Kaddor zitiert zwei Textpassagen heran, die beide den Publizisten Henryk M. Broder aufgrund dessen "Islamkritik" positiv rezipieren und promoten. Beide Zitate sind ganz ähnlich positiv. Das eine jedoch kommt von der (angeblich) antideutschen Postille "Bahamas", das andere von der NPD Chemnitz. Das ist die neue "Querfront", und Kaddor nennt auch einen Ex-Linken wie Jürgen Elsässer in diesem Kontext und erwähnt den Ausstieg von Michael Miersch vom von Broder und Dirk Maxeiner geführten Autorenblog "Achse des Guten" von Januar 2015.Sie erwähnt, dass dieser Ausstieg Mierschs doch ziemlich spät passierte, aber immerhin.