Migrationskrise in Italien: Die Lage ist desolat

Ein irisches Schiff nimmt im Mittelmeer Migranten auf. Bild: Irish Defence Forces. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Renzi bestreitet drohenden Kollaps und sieht EU in der Verantwortung - Währungskommissar Moscovici stellt mehr Schulden für Migrationsfrontländer in Aussicht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Thema Migrationskrise wird in Italien auf politischer Ebene derzeit nur marginal behandelt. Zu sehr ist Matteo Renzi wohl mit dem Verfassungsreferendum, der Ӓnderung des Wahlgesetzes und den parteiinternen Konflikten des Partito Democratico beschäftigt. Da die Ankünfte an Italiens Küsten ein alltäglicher und andauernder Zustand sind, lässt auch die öffentliche Aufmerksamkeit nach.

Doch das Drama, das sich parallel und integrierend zur Europakrise abspielt, geht deshalb noch nicht zurück, sondern wiederholt sich täglich nach einem immer gleichbleibenden Drehbuch.

Fast jeden Tag kommen Tausende von Migranten vor allem aus Lybien, nach lebensgefährlichen Schlepperfahrten auf Schlauchboten an. Allein letzte Woche hat die Küstenwache in 2 Tagen mehr als 10.000 aus dem Meer gerettet. Leider wurden auch 50 Leichen geborgen. Bis September sollen schätzungsweise 281.740 Menschen Italien erreicht haben. Dieser signifikante Zulauf und der chronische Notstand haben das italienische Aufnahmesystem an seine Grenzen gestoßen.

Hilfsorganisationen zufolge ist nach dem Pakt zwischen der EU und der Türkei die Strecke Libyen-Italien zur wichtigsten Route für afrikanische Migranten geworden, die nach Ihrer Ankunft in einem der sogenannten Hotspots (Lampedusa, Trapani, Pozzallo, Taranto - eigentlich Haftzentren, die, laut UN-Menschenrechtskommissariat, menschenunwürdige Bedingungen bieten) gebracht werden.

Dort werden sie registriert und medizinisch versorgt, sollen aber, sobald wie möglich abgeschoben werden. Wer nicht um Asyl ersucht, wird aufgefordert, innerhalb von sieben Tagen das Land zu verlassen. Viele von ihnen landen dann auf der Straße. Eine Weiterreise nach Nordeuropa ist schwierig, da die Migranten an den Grenzen immer wieder zurückgewiesen werden - in Como etwa, oder bei Ventimiglia.

Renzi bestreitet drohenden Kollaps und sieht EU in der Verantwortung

"Wir sind nicht am Kollabieren. Die EU soll sich um die Abschiebungen kümmern", behauptete Renzi noch im August während des Treffens mit Angela Merkel. Bei der UNO-Generalversammlung und beim Migrationsgipfel in New York vor einigen Wochen wiederholte er, dass Italien autonom vorgehen werde, falls Europa sein bisheriges Verhalten nicht ändere.

Er forderte außerdem, dass die EU sich mehr des Mittelmeerraumes annehmen solle. Juncker sage zwar viele schöne Dinge, denen allerdings keine Fakten folgen - das sei ein Problem der EU, behauptet Renzi.

Dem schloss sich vergangene Woche auch Außenminister Paolo Gentiloni an: "Es fehlt die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Politik. Der EU droht deshalb eine ernste und schwerwiegende Krise. Wenn jedes einzelne Land eine Wand bauen darf, wird das europäische Gebilde wirklich gefährdet sein. Ich hoffe, dass die EU diese Politik der Mauern und der Schließungen überwinden wird. Wenn es so weitergeht, wird Italien kein Durchgangsland mehr sein, sondern immer mehr zum Zielland werden, was eine Stärkung der Aufnahme- und Integrationsmaßnahmen nach sich ziehen würde."

Währungskommissar Moscovici stellt mehr Schulden für Migrationsfrontländer in Aussicht

Manchmal sendet die EU allerdings auch andere Signale. Wie etwa vor einigen Tagen, als Pierre Moscovici, EU-Kommissar für den Bereich Wirtschaft und Währung, von Washington aus, wo er an der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds teilnahm, sich gegenüber der Agentur Bloomberg nicht nur überzeugt zeigte, dass Italien es "wie immer schaffen werde" seine Banken- und Haushaltsprobleme zu lösen, sondern auch eine größere Flexibilität beim Defizit für all die Länder ankündigte, die, wie Italien, von der Migrationskrise oder Erdbeben betroffen sind.

Moscovici warnt allerdings: "In Italien stellt der Populismus eine politische Gefahr dar, deshalb unterstützen wir Renzis Bemühungen, damit Italien ein starker Partner in der EU sein kann." Moscovici schlägt optimistische Töne an und betont, wie wichtig ihm und der europäischen Kommission der Dialog, vor allem in Sachen Staatshaushalt ist. "Italien muss seine Anstrengungen zur Senkung des Defizits und der Verschuldung fortsetzen", erklärte er. Gemeinsames Ziel der EU sei es, die Sanktionierung der Länder zu vermeiden, die die haushaltspolitischen Ziele im Rahmen des Stabilitätspakts nicht einhalten.

Gleichzeitig fordert Matteo Salvini, der Chef der Lega Nord: "Die Invasion muss gestoppt werden, sonst werden die Italiener Selbstjustiz verüben. Ab heute sollen nur Frauen und Kinder aufgenommen werden. Beppe Grillo, der Chef der euroskeptischen Movimento 5 Stelle, wirft der Renzi-Regierung Fehlentscheidungen und Missmanagement vor: "Seit Renzi an der Macht ist, hat sich die Zahl der Landungen und leider auch der Toten regelrecht verdreifacht. Das wird sich mit uns ändern!", meint er in seinem Blog. Laut Grillo solle Renzi lieber den Waffenexport nach Saudi-Arabien stoppen.

Das Verlangen der Wähler nach einer Verschärfung der Einwanderungspolitik und der Wiedereinführung der Grenzen im Schengen-Raum reflektiert einen immensen Groll gegen die strukturelle Krise des gesamten Systems sowie die andauernde Wirtschaftskrise.

Die Europäer hatten sich mit dem vereinten Europa und einer europäischen Führung ein glücklicheres Dasein erhofft - doch die EU hat sie mit all ihren Zwistigkeiten bitter enttäuscht. Ist der Antieuropäismus in dieser Situation nicht entschuldbar?

Die bis zu einem gewissen Punkt verständliche, ja sogar natürliche Fremdenfeindlichkeit, die nicht zwingend mit Rassismus gleichzusetzen ist, entsteht auch aus Angst vor einer Regierungsunfähigkeit, die ein kompakte Antwort auf bestehende Probleme unmöglich macht. Jetzt steht nichts Minderes als das Weiterleben der EU auf dem Spiel.