Der Traum vom Großtürkischen Reich

Die Eliminierung der letzten demokratischen Strukturen in der Türkei

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Tagtäglich erreichen uns neue Nachrichten über Verhaftungen von Schriftstellern, die Schließung von regimekritischen Medien, Projekten und öffentlichen Einrichtungen. Auch die Absetzung von unliebsamen Bürgermeistern in den kurdischen Gebieten wird fortgeführt. Nun stellt Erdogan auch noch den Lausanner Vertrag in Frage (Säbelrasseln in der Ägäis?). Mit Demokratie hat dies schon lange nichts mehr zu tun.

Die Parallelen zu einer faschistischen Diktatur treten immer offener zu Tage. Europa verhält sich derzeit wie damals Chamberlain zu Hitler, sie werden zu Gehilfen eines neuen faschistischen Systems vor den Toren Europas. Würde dies alles in Russland passieren, es ginge ein Aufschrei durch die Welt. Aber zur Türkei schweigt man.

Die Frage, die sich stellt ist: Ist die Türkei schon eine faschistische Diktatur oder ist sie ein totalitäres System mit faschistischen Tendenzen? Im Wörterbuch der Soziologie von Karl-Heinz Hillmann wird Faschismus definiert als ein Herrschaftssystem, "das a) die Vorrechte bestimmter, als elitär bewerteter Gruppen schützt, Opposition als zersetzend und gemeinschaftsgefährlich unterdrückt und in allen Bereichen das Führerprinzip durchsetzt; b) durch politische Herrschafts- und Kampfmethoden, die mit Terror, Propaganda und Demagogie die Volksmassen zum Gehorsam und zum unbedingten Glauben gegenüber den Führern bringen wollen … und den Hass … auf kritisch-rationale oder ethnische und politische Minderheiten (Intellektuelle, Farbige, Juden, Kommunisten) lenken".1

Was den Faschismus vom Totalitarismus unterscheidet, ist die Ausrichtung auf das Völkische. In der Türkei können wir dies durch die Propaganda des "Türkentums" in Kombination mit dem sunnitischen Islam beobachten. Andere Ethnien (z.B. Kurden und Armenier) oder Religionsgemeinschaften (z.B. Aleviten, Christen und Eziden) werden nicht anerkannt, bzw. einer Assimilierung unterzogen. Minderheiten wie Schwule und Lesben spüren die zunehmende Islamisierung besonders stark, wie die europäische-Kommission gegen Rassismus und Intoleranz in ihrem jüngsten Bericht feststellte.

Erdogans Sprache ist eine völkische Sprache: "Das Volk spricht … Das Volk will … " dies wurde sehr deutlich nach dem Putschversuch, wo Erdogan die Massen hinter sich vereinen wollte mittels völkischer Begriffe und seiner Selbst-Präsentation auf den Massenveranstaltungen der AKP als Führer der aufrechten Türken und Muslime. Sprechchöre wie "Hier der Führer, hier die Armee" sind keine Seltenheit bei seinen Auftritten.

Angeblich das große geschichtliche Vorbild Erdogans: Sultan Süleyman I. Bild: Nakkaş Osman/gemeinfrei

Im Mai sprach Erdogan vor mehreren Hunderttausend Menschen zum 563. Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen. Dieses Datum wurde früher nur von extremen Nationalisten und Islamisten gefeiert. Heute ist es praktisch ein offizieller Gedenktag. Im Jahr zuvor schwärmte Erdogan dort von der Eroberung Jerusalems.

Die Mobilisierung durch die AKP-Strukturen erzeugt eine aggressive Massenbasis, die täglichen Übergriffe auf Minderheiten sprechen für sich. Am vergangenen Freitag sagte Erdogan auf einer Kundgebung im zentraltürkischen Konya: "Die Rufe aus dem Volk nach der Todesstrafe sind eine berechtigte Forderung. Was der Westen dazu sagt, interessiert mich nicht. Mich interessiert mein Volk."2 Das Völkische ist kein Merkmal von Totalitarismus, sondern von Faschismus, bzw. faschisierenden Tendenzen. Die zunehmende Islamisierung der Türkei ist eine Folge davon. Dabei ist wichtig festzuhalten dass "die Faschisierung islamisiert, nicht der Islam faschisiert"3. Auch die Männerdominanz und die Reduktion der Frau als Mutter und Gebärmaschine ist uns aus dem deutschen Faschismus bekannt.

Hinzu kommt die Gleichschaltung der Medien, der Justiz, der Polizei und des Militärs, die Erdogan direkt unterstellten Paramilitärs sowie die totale Ausrichtung auf Erdogan, der durch die Ausrufung des Ausnahmezustands per Dekret das Parlament quasi ausgeschalten hat. Die CHP kann nur noch protestieren, Einfluss auf Beschlüsse und deren Durchführung hat sie nicht mehr. Die demokratische HDP ist kaltgestellt, die Verhaftung der Abgeordneten steht als nächstes auf der Agenda.

Die Massenverhaftungen nach dem Putschversuch zeugen von einer langen Vorbereitung der Eliminierung jeglicher Opposition. Die Listen lagen schon lange in der Schublade und warteten nur auf den günstigen Moment der Umsetzung. Um nur einen kleinen Eindruck zu bekommen, wie rasant diese Entwicklung von statten geht, eine (unvollständige) Dokumentation der Eliminierung demokratischer Organisationen innerhalb der letzten zwei Wochen:

Medien und Journalisten

  1. Am Montag, den 1. Oktober 2016 wurde der in Europa angesiedelte kurdische Sender Med Nûçe von EURATEL, bzw. Eutelsat als Frequenzgeber, auf Betreiben der türkischen Regierung geschlossen (vgl. Biene Maja, die Schlümpfe und andere Gefahren für die Sicherheit der Türkei). Als Grund gab der Eutelsat-Generaldirektor Rodolphe Belmer an: "Wir müssen mit den türkischen Behörden zusammen arbeiten."
  2. Am 10. Oktober wurde der kurdische Sender Newroz TV ebenfalls von Eutelsat geschlossen. Dieser Sender richtet sich insbesondere an die iranischen Kurden. Nun gibt es in Europa nur noch einen kurdischen Sender, Sterk TV.
  3. Die technischen Geräte aus den Studios der geschlossenen Fernsehsender IMC TV, TV 10 und Hayat Televizyonu wurden beschlagnahmt und dem staatlichen Fernsehen TRT als Treuhänder übergeben. Der dürfte sich über den kostenlosen Zuwachs modernen Equipments gefreut haben.
  4. Mehr als 3000 Angestellte in den verschiedenen Medienbranchen wurden seit dem Putschversuch entlassen, berichtete die Gewerkschaft DISK. Die Journalistengewerkschaft TGS spricht von einer Arbeitslosenquote in der Medienbranche von 30%. Darunter sind auch die Mitarbeiter der in den letzten zwei Wochen geschlossenen 23 Fernseh-und Radiosender, wie zum Beispiel TV 10: Dort wurden 50 Angestellte entlassen, bei Hayatin Sesi 28, bei IMC TV 120 Angestellte, bei Van TV 35, bei dem Kindersender Zarok TV wurden 20 Angestellte zwangsweise in die Arbeitslosigkeit geschickt und bei Azadi TV waren es 30 Angestellte.
  5. Die beiden bekannten türkischen Cumhuriyet-Journalisten Ayşe Yıldırım und Celal Başlangıç wurden mit einem Ausreiseverbot belegt und ihre Reisepässe ohne Angabe von Gründen für ungültig erklärt. Die beiden befanden sich auf dem Weg nach Brüssel. Es ist anzunehmen, dass der Grund eine Solidaritätsbekundung für die nun ebenfalls verbotene Tageszeitung Özgür Gündem ist.
  6. Nach Angaben der ISKU befinden sich momentan 124 Journalisten in Untersuchungshaft oder im Gewahrsam, 6 sind in regulärer Haft. Davon wurden 32 vor und 92 nach dem gescheiterten Militärputsch verhaftet und angeklagt.4

Die Gleichschaltung der türkischen Medien hat zur Folge, dass ausländische Journalisten, die sich nicht vor Ort aufhalten können, ihrer Quellen beraubt wurden und damit kaum noch eine seriöse Berichterstattung garantieren können. Der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli hat aus diesem Grunde seine Berichterstattung vorerst eingestellt - weil er den Nachrichten aus Syrien und der Türkei nicht mehr trauen könne.

Der ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Cumhurriyet, Can Dündar kündigte als erste Reaktion darauf an, von Europa aus ein neues türkisches Nachrichtenmedium gründen zu wollen. Zur Situation der Journalisten und den Medien-Verboten bemerkt Dündar:

Jeder inhaftierte Journalist führt dazu, dass vielleicht hundert andere Journalisten schweigen. Sie wollen ein Klima der Angst erschaffen und mit diesem Klima alle Medien zum Schweigen bringen. Sie denken, dass wenn ein Journalist straflos gegen die Regierung schreiben kann, dies andere Journalisten wiederum ermutigt. Deshalb bestrafen sie jegliche Kritik, um die anderen abzuschrecken.

Can Dündar

Verhaftungen, Entlassungen und andere Schikanen

  1. Die Kreisstadt Ergani in der südostanatolischen Provinz Diyarbakir wurde Ende September unter Zwangsverwaltung gestellt. Sie ist somit die 26. von der kurdischen Demokratischen Partei der Regionen (DBP) regierte Kommune. Die Bürgermeisterin Aygün Taskin wurde, wie üblich, unter dem Vorwurf der "Unterstützung einer Terrororganisation" bereits verhaftet.
  2. Die regierungsnahe Tageszeitung Sabah berichtet, dass in naher Zukunft bis zu 40.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes aufgrund angeblicher Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans PKK entlassen werden sollen. In den letzten Wochen wurden schon mehr als 50.000 Staatsbeamte ohne Prozess wegen angeblicher Gülen-Anhängerschaft entlassen, darunter auch 11.000 Lehrer wegen Mitgliedschaft in der linken Bildungsgewerkschaft.
  3. Die verhafteten Mitglieder der linken Hackergruppe "RedHack", die Dokumente von Polizei und Geheimdienst veröffentlicht hatten, berichteten über ihren Rechtsanwalt über die Aussageerzwingung durch Folter sowie über Verbindungen des Energieministers Albayrak zum IS. Um die Verbreitung der geleakten Emails des Ministers zu verhindern, sperrte die türkische Regierung am Sonntag Dropbox und Google Drive. Albayrak ist der Schwiegersohn von Erdogan.
  4. In der mittelanatolischen Provinz Yozgat ließ der Gouverneur alle Bars schließen, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde.
  5. In Batman hat der Statthalter das 2011 eröffnete Frauen-Ausbildungszentrum Hêvî - Umut (dt. Hoffnung) geschlossen. Dieses kurdische Zentrum bildete Frauen fort, damit sie einen Beruf ergreifen können, um sich vom Mann ökonomisch unabhängig machen zu können.
  6. Ebenfalls in Batman wurden vier von der Gemeinde eingerichtete Stadtteil-, Kunst- und Kulturzentren geschlossen.
  7. Deniz Naki, dem früheren Spieler des FC St. Pauli und des SC Paderborn droht eine Haftstrafe bis zu 5 Jahren. Die Staatsanwaltschaft erhob nun Anklage wegen, - was soll‘s auch anderes sein-Propaganda für die PKK via Twitter und Facebook. Naki selbst bestreitet dies, er hätte nur Friedensbotschaften gepostet.

Bericht über Folter eines Politikers durch türkische Spezialeinheiten

Am 7.10.2016 berichtete der DBP-Ko-Vorsitzende von Şirnak, Hurşit Külter, auf einer Pressekonferenz über die ihm widerfahrene Folter durch türkische Spezialeinheiten. Der Politiker wurde Ende Mai von türkischen Spezialeinheiten festgenommen. Es fehlte seitdem jede Spur von ihm. Schließlich gelang ihm die Flucht in die kurdische Autonomieregion (KRG) im Nordirak.

Sie haben mich 13 Tage in dem Keller eines Hauses festgehalten. Dabei haben sie mich sehr stark physisch und psychisch gefoltert. Gleichzeitig wollten sie ständig, dass ich als Agent für sie arbeite. Sie wollten, dass ich mich öffentlich gegen die Selbstverwaltung der Städte und gegen den Widerstand ausspreche. Dies haben vor allem die Spezialeinheiten der Polizei gemacht und einer von ihnen hat mir ständig damit gedroht, mich umzubringen. (...) Ich habe ihre Gespräche gehört, sie sagten: "Er hat jetzt gerade etwas Aufmerksamkeit. Lassen wir sie bisschen warten, der Protest wird mit der Zeit abnehmen und dann können wir ihn umbringen." (...) Als ich vom Keller des Hauses in das oberste Stockwerk verlegt wurde, habe ich nach Fluchtwegen gesucht und konnte fliehen. Als ich das Haus verlassen hatte, haben sie mich bemerkt und begannen auf mich zu schießen, um mich umzubringen oder wieder einzufangen. Aber ich konnte entkommen (…)

Hurşit Külter

Interview mit von der PKK gefangenen türkischen Offizieren

Ende August führte die türkische Armee im Gebiet um Çelê (türk. Çukurca) der Provinz Colemêrg (türk. Hakkâri) eine der größten Militäroperationen durch, die aber von den Guerillaeinheiten der PKK abgewehrt wurde. Dabei fielen ihnen die beiden türkischen Offiziere Ümit Gıcır und Mevlüt Kahveci in die Hände. Die türkische Regierung und die gleichgeschalteten Medien verschwiegen diese Festnahme wie auch ihre Niederlage mit hunderten getöteten Soldaten.

Die Nachrichtenagentur ANF konnte mit den in einem Guerillastützpunkt gefangen gehaltenen Offizieren ein Interview führen. In dem Interview gaben sie an, dass sie zunächst erwartet hatten, hingerichtet zu werden. Aber es ginge ihnen gut. Sie riefen alle türkischen Politiker dazu auf, sich endlich für Frieden und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage zu bemühen: "Beendet diesen Krieg jetzt. Lasst nicht noch mehr Blut fließen".

Ihre Familien riefen sie ebenfalls zum Handeln auf: "Uns geht es gut, wir sind gesund. Einzig eure Bemühungen können uns nun von hier heraus holen. Geht zum Parlament, fordert ein Treffen mit dem Präsidenten, unternehmt etwas und bleibt nicht geduldig zuhause sitzen".