Der Tabubruch von "Terror"

Screenshot aus dem ARD-Film "Terror"

Deutschland auf der schiefen Ebene

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Im ersten Teil ("Terror" im Fernsehen) wurde die Inszenierung einer gefährlichen Debatte auf der Grundlage des Theaterstücks von Schirachs dargestellt. Im zweiten Teil wurden die rechtswissenschaftlichen, moralphilosophischen und psychologischen Hintergründe des umstrittenen Flugzeugabschusses besprochen (Die Psychologie von "Terror"). In diesem dritten und letzten Teil geht es darum, wie die Inszenierung und Diskussion von "Terror" einen verfassungsrechtlichen Tabubruch provoziert. Dabei wird in die Aufmerksamkeit gerückt, wie sich Bundesregierung, Bundestag und Militärführung gegen die Verfassung stellten.

Weil der Pilot im Theaterstück ohne Befehl handelte, geht es in "Terror" um ein strafrechtliches, kein verfassungsrechtliches Problem. Darum steht auch nicht die grundgesetzliche Menschenwürde zur Disposition, sondern strafrechtliche Schuld. Dass von Schirach den Richter seines Theaterstücks wiederholt auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verweisen lässt, ist dann ebenso verwirrend wie der vom Team "Hart aber Fair" vorprogrammierte Streit zwischen den Exministern Jung und Baum über die Auslegung des grundgesetzlichen Schutzes von Menschenwürde und Leben.

Im Urteil 1 BvR 357/05 des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz steht ausdrücklich, dass dort nicht die im Theaterstück durchgespielte strafrechtliche Frage entschieden wurde: "Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären…" (Absatz 130).

Abstimmung birgt konkrete Gefahren

Durch diese fatale Vermischung in Theater, Film und Mediendiskussion entsteht nach der Abstimmung des Publikums ein falscher Eindruck: Eine Mehrheit der Deutschen würde den Schutz von Menschenwürde und Leben einschränken, wenn durch das Opfern einer Minderheit eine Mehrheit gerettet werden kann. Dies birgt die Gefahr, dass sich Politikerinnen und Politiker in Zukunft darauf berufen, die Bevölkerung sei für eine Aufrechnung von Menschenleben gegen Menschenleben von Seiten des Staats. Dabei ist dies gerade nicht Gegenstand des Theaterstücks.

Diese Gefahr ist nicht nur theoretischer Natur, sondern bereits während Plasbergs Talkshow eingetreten. So verstand der frühere Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung das deutliche Votum der Zuschauerinnen und Zuschauer als Stärkung seines eigenen Standpunkts. Jung hatte sich schon 2006, also während seiner Amtszeit als Verteidigungsminister, eindeutig gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestellt: Er würde eine entführte Passagiermaschine, mit der ein Angriff bevorstehe, abschießen lassen.

Ewigkeitsgarantie der Menschenwürde

Dass wir uns damit auf eine gefährliche schiefe Ebene begeben, haben aber gerade die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gezeigt, die nicht nur die unantastbare Menschenwürde (Artikel 1 Satz (1) GG) und die Bindung aller Staatsgewalt an ihren Schutz (Satz (2)) an den Anfang des Grundgesetzes gestellt haben, sondern diese sogar mit einer Ewigkeitsklausel versehen haben (Artikel 79 Absatz 3 GG).

Dabei ließ das Bundesverfassungsgericht keinen Zweifel daran, dass der Staat niemals unschuldige Menschen zum Abschuss freigeben darf, selbst wenn diese, wie es Jung gebetsmühlenartig wiederholte, "dem Tode geweiht" seien:

Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten vielfach nicht gänzlich vermeiden lassen, ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten.

1 BvR 357/05 vom 15. Februar 2006, Absatz 130

Strategie der Bundesregierung scheiterte

Interessant ist, welchen Standpunkt die Bundesregierung in dem Verfahren vertrat. So seien die unschuldigen Flugzeuginsassen "Teil der Waffe" und hätten sich durch Teilnahme am Flugverkehr bewusst in dieses Risiko begeben (Absatz 56). Dadurch entfielen, etwas verkürzt wiedergegeben, die verfassungsrechtlichen Einwände gegen den Abschuss einer Passagiermaschine. Diesen Überlegungen erteilte das Bundesverfassungsgericht aber eine deutliche Absage:

Diese Auffassung bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil einer Sache gesehen und damit selbst verdinglicht werden. Mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und der Vorstellung vom Menschen als einem Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen [...], und das deshalb nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf, lässt sich dies nicht vereinbaren.

1 BvR 357/05 vom 15. Februar 2006, Absatz 134

Sich selbst dem Tode weihen?

Sowohl die Vereinigung Cockpit als die Unabhängige Flugbegleiter Organisation UFO verwiesen übrigens auf Ungewissheiten bei der Einschätzung der Gefahr (Absätze 68 und 70): Der Staat müsse aus großer Entfernung und unter großem Zeitdruck die Entscheidung treffen. Es könne aber bis zuletzt nur darüber spekuliert werden, wie die Situation an Bord sei und was die Motive und Ziele der Flugzeugentführung seien.

Das wirft, nebenbei gesagt, die Frage auf, ob sich Passagiere und Crewmitglieder aus Sicht der Bundesregierung selbst "dem Tode weihen" würden, wenn sie Details über die Situation an die Bodenstation funken. Dass sich bis zum Schluss nicht mit Sicherheit feststellen lasse, wie groß die Bedrohung wirklich ist, war jedenfalls im Urteil des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls ein wesentlicher Punkt.

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