Die Neue Mitte ist rechts

Ein Überblick über die langfristigen Wandlungen des politischen Spektrums in Deutschland, die uns die kommenden vier schwarzen Jahre bescheren

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41,5 Prozent für die CDU, die damit knapp an der absoluten Mehrheit vorbeischrammte - und die gab es zuletzt 1957 unter Adenauer.1 Offensichtlich existiert in der Bundesrepublik derzeit eine Mehrheit rechts der viel beschworenen "Mitte". Die deutsche Rechte hat bei den Bundestagswahlen einen fulminanten Wahlsieg errungen, der die CDU beinahe mit einer absoluten Mehrheit beglückte. Die Etablierung bayerischer Verhältnisse im Bund, also die Alleinherrschaft einer konservativen Partei, scheiterte an nur fünf Parlamentssitzen, die der Union hierzu fehlten.

Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit können übrigens kaum für dieses Ergebnis verantwortlich gemacht werden, da bei diesem Urnengang die Wahlbeteiligung erstmals seit 1998 wieder angestiegen ist. Dabei hat gerade die Fünf-Prozent-Hürde einen totalen Durchmarsch der Rechtsparteien verhindert. Die rechtspopulistische AfD und die FDP lagen mit 4,7 und 4,8 Prozent knapp unter dieser Schwelle. Wenn man noch die 1,3 Prozent Wählerstimmen hinzurechnet, die die NPD auf sich vereinigen konnte, haben 52 Prozent aller an dem Urnengang teilnehmenden Wähler für Partieren gestimmt, die der - mehr oder minder extremen - Rechten zuzuordnen sind.

Aber was sagen diese Einordnungen in das traditionelle Rechts-Links-Schema überhaupt noch aus? Gibt es noch diese klassische Frontstellung zwischen rechten, konservativen und reaktionären Parteien, die auf die Bewahrung des Bestehenden - oder die Rückbesinnung auf Vergangenes - abzielen, und progressiven Gruppierungen, die eine - revolutionäre oder reformistische - Überwindung der bestehenden Gesellschaft anstreben? Sind die Grünen, sind die Sozialdemokraten nur deswegen noch als Linke, als progressive Parteien zu bezeichnen, weil es rechtspopulistische Kräfte wie die CSU und die AfD gibt, die sich Bismarck als Vorbild nehmen und eine Autobahnmaut für Ausländer einführen wollen?

Die Grünen zumindest haben ihren linken Ballast nach ihrer Wahlniederlage in Rekordgeschwindigkeit entsorgt, um möglichst rasch ihre Koalitionsfähigkeit zu demonstrieren. Fraktionschef Jürgen Trittin, der dem "linken" Parteiflügel zugerechnete Architekt des Bundestagswahlkampfes, kündigte umgehend nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse seinen Rücktritt an. Seine potenziellen Nachfolgerinnen - Göring-Eckardt und Andreae - überbieten sich derweil in Beteuerungen, die Partei "zurück in die bürgerliche Mitte" zu führen, wie es Spiegel-Online formulierte.

Göring-Eckardt erklärte, die reumütigen Grünen würden nun "wieder stärker die gesellschaftliche Mitte" ansprechen wollen, um "verlorengegangene Sympathien" zurückzugewinnen. Ihre Konkurrenten um den Fraktionsvorsitz, Kerstin Andreae, präzisierte diese Neuausrichtung im Gespräch mit den Stuttgarter Nachrichten: Es gehe ihr vor allem darum, "neue Brücken zu den Unternehmen" zu schlagen. Die Grünen hätten mit ihren Wahlkampfparolen von "Steuer- und Abgabenerhöhungen den Bogen überspannt", kommentierte Spiegel-Online. Doch nun wollten alle zurück in die "Mitte".

Eine klare Meinung haben die Deutschen zur Neuausrichtung der Grünen. So plädieren 69 Prozent der Befragten für eine Öffnung der Partei zur bürgerlichen Mitte. Nur 16 Prozent empfehlen, den Linkskurs fortzusetzen. Auch bei den Grünen-Wählern wünscht sich die Mehrheit einen Ruck zur Mitte - wenn auch nicht ganz so deutlich: 58 Prozent der Grünen-Wähler favorisieren eine Neuausrichtung zur Mitte hin, nur 41 Prozent wollen beim klaren Linkskurs bleiben.

Emnid-Umfrage für N24

Neoliberale Einheitsfront

Wie sah dieser "Linkskurs" der Grünen aber tatsächlich aus? Die im grünen Wahlkampfprogramm geforderten Steuersätze für Wohlhabende lagen beispielsweise unter denen, die während der Ära des konservativen Bundeskanzlers Helmut Kohl Gesetz waren. Wenn die Forderung nach Einführung von Steuersätzen, die unter denen liegen würden, die eine stockkonservative Regierung in den 90ern erhob, als Linkskurs gilt, dann müssen sich wohl die Vorstellungen von dem, was "Links" ist und wo sich die "Mitte" befindet, in den vergangenen Jahren ziemlich stark verschoben haben.

Die Schnelligkeit, mit der die Grünen diesen Kursschwenk vollführen, macht nur zu deutlich, dass es sich beim nun verteufelten "Linkskurs" um reine Wahlkampftaktik gehandelt hat, um eine Fehleinschätzung der Strategen der Partei, die nun korrigiert wird. Die Grünen sind spätestens seit ihrer ersten Regierungsbeteiligung im Kabinett Schröder/Fischer in der neoliberalen "Neuen Mitte" angekommen. Der Preis für all die schönen Kabinettsposten, den die ehemaligen Ökorebellen entrichten mussten, bestand in der Teilnahme am ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, der gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geführt wurde, und vor allem in der Durchsetzung der Agenda 2010 - eben des neoliberalen "Reformprogramms", dessen übelste Auswüchse im Wahlprogramm der Grünen angeprangert wurden.

Bei den Grünen handelte es sich somit längst um eine neoliberale Partei, deren Spitzenpersonal beim Kampf um Ministerposten keine Skrupel kennt und selbst vor Kriegsbeteiligungen nicht zurückschreckt. Derselbe gilt selbstverständlich für die ehemaligen Koalitionspartner der Grünen, für die SPD - für die Partei eines Salonrassisten wie Thilo Sarrazin. Es ließe sich sogar argumentieren, dass es gerade nur der "Neuen Mitte" dieser ehemals linken Parteien möglich war, solch einen fundamentalen Rechtsruck in Deutschland durchzusetzen, wie ihn die neoliberale Agenda 2010 darstellte - diesen Kräften gelang es weitaus besser, Widerstandspotenzial etwa bei den Gewerkschaften auszuschalten, als es die CDU vermocht hätte. Die Christdemokraten konnten in der jüngsten Wahl schlicht die Ernte einfahren, die von Rot-Grün ausgebracht wurde.

Objektiv betrachtet sind mit der CDU/CSU, der SPD und den Grünen vier neoliberale Partien im neuen Bundestag vertreten, weswegen die Häme über das Scheitern der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde, die allerorts geübt wird, eigentlich gänzlich unbegründet ist. Es gibt genügend neoliberale Alternativen.

Neben dieser neoliberalen Einheitsfront findet sich mit der Linkspartei eine klassisch sozialdemokratische Kraft im Bundestag, deren braven Reformvorschlägen im gegenwärtigen politischen Klima der Bundesrepublik der Ruch des Extremismus anhaftet. Nichts ist entlarvender für die Zustände in der "Mitte" der BRD, wenn die Linkspartei sich mit einem Vorschlag zur Einführung eines einheitlichen Mindestlohns zu profilieren versucht - einer zivilisatorischen Selbstverständlichkeit in nahezu allen Industrieländern, einschließlich der USA. Eigentlich ist es überflüssig, zu erwähnen, dass diese Initiative der Linken zur Verwirklichung einer Forderung, die sich auch im Wahlkampfprogramm der SPD wiederfindet, von den Sozialdemokraten abgelehnt wurde.

Alles Alte ist besser als alles Neue

Um sich ein Bild davon zu machen, welche Standpunkte heutzutage am linken Rand des öffentlich tolerierten politischen Spektrums noch vertreten werden dürfen, reicht ein Blick auf Sahra Wagenknecht, die dem linken Flügel der Linkspartei zugerechnet wird. In ihrem Buch "Freiheit statt Kapitalismus" plädiert die ehemalige Frontfrau der Kommunistischen Plattform in der PDS für eine Rückbesinnung auf die Wirtschaftskonzepte des konservativen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, die Wagenknecht nur "zu Ende denken" wolle.

Ansonsten greifen Wagenknecht und Oskar Lafontaine auf staatszentrierte Politikrezepte der Sozialdemokratie - die zumeist als Keynesianismus bezeichnet werden - aus den 70er Jahren zurück, um sie als Alternative zum gegenwärtigen Neoliberalismus zu präsentieren. Wagenknecht wäre in den 50er Jahren im Arbeitnehmerflügel der CDU gut aufgehoben gewesen, in den 70ern wäre sie in der SPD programmatisch kaum aufgefallen.

Offensichtlich stellt das politische Koordinatensystem, in dem das übliche Rechts-Links-Schema abgebildet wird, keine statische Größe dar. Es befindet sich in Bewegung, es findet ein Wandel der Vorstellung dessen statt, was als "Links", oder als "Rechts" anzusehen ist. Und offenbar kann für die vergangenen Dekaden in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eine starke Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums konstatiert werden. Standpunkte und Politikkonzepte, die vor wenigen Dekaden sozialdemokratische Regierungspolitik darstellten, werden nur noch von der Linken vertreten. Die "Neue Mitte", die von Rot-Grün mittels Agenda 2010 und Jugoslawienkrieg durchgesetzt wurde und von deren allgemeingesellschaftlicher Etablierung nun die CDU profitiert, ist neoliberal, zunehmend chauvinistisch und erzreaktionär. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man Auffassungen dieser Mitte, wie die Forderung nach Autobahngebühren für Ausländer oder nach einer stärkeren Durchsetzung deutscher Interessen in Europa, als rechtes Gedankengut öffentlich zurückgewiesen.

Wie weit die Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums in der Bundesrepublik im Laufe der Jahrzehnte gediegen ist, kann am wirtschafts- und sozialpolitischen Programm der CDU von 1947 abgelesen werden, das mit folgender Passage eingeleitet wurde:

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.

Parteien, die heutzutage ihren wirtschaftspolitischen Konzepten solche Präambeln voranstellen würden, müssten mit einer Überwachung durch den Verfassungsschutz rechnen.

Der gegenwärtige neoliberale Konsens in Deutschland, der zunehmend mit Chauvinismus und Ressentiments angereichert wird, hat auch zu einer Umpolung der strategischen Haltungen im politischen Spektrum beigetragen: Die Restlinke scheint konservativ und bewahrend, die Rechte erweckt den Anschein, aktiv und gestaltend zu agieren. Die Durchsetzung des neoliberalen Kahlschlagprogramms in der BRD vollzog sich in der Form eines gesellschaftlichen Aufbruchs. Während die Parteien der neoliberalen Einheitsfront bei der grundlegenden Umwälzung der Bundesrepublik entlang der Interessen der "Wirtschaft" in die Offensive gingen, diese mit einer entsprechenden aktivistischen Rhetorik von der "Gestaltung der Zukunft" etc. begleiteten, konnte die Linke nur in erfolglosen Abwehrkämpfen verharren, in denen die sozialstaatlichen und zivilisatorischen Überbleibsel verteidigt wurden, die dem Kapitalismus in der Nachkriegsepoche abgetrotzt wurden.

Seit dem Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus osteuropäischer Prägung verfiel die rasch marginalisierte Linke in eine rückwärtsgewandte Haltung. Man wollte strömungsübergreifend zurück in die Vergangenheit: in den Rheinischen Kapitalismus der Bonner Republik, oder man trauerte der untergegangenen DDR nach. Alles Alte ist besser als alles Neue - diese Umkehrung der berühmten Formulierung Berthold Brechts - dürfte die Grundhaltung einer bundesrepublikanischen Linken auf den Punkt bringen, die es noch immer nicht vermag, grundlegende Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise zu denken, ohne auf die längst gescheiterte Konzepte der Vergangenheit zurückzugreifen.