Deutschland: Sparweltmeister beim Nachdenken über Allgemeinbildung?

Der Pisa-Test für Erwachsene entspricht nicht dem selbstbeweihräucherndem Bild, das man sich hierzulande macht

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Das Organ für den deutschen Nationalstolz meldet einen "Bildungsschock" in Form einer Lehrerbeurteilung: "Deutsche schlecht im Lesen und Rechnen." Was so nicht ganz stimmt, weil die Rechenergebnisse im Bevölkerungskompetenztest nicht schlecht waren. Aber eben auch nur im Mittelklassenbereich.

Eine gewisse Fallhöhe ist schon gegeben, angesichts des Jubels über die guten deutsche Verhältnisse, wie er im Wahlkampf zu hören war, angesichts der ständigen Rede vom Exportweltmeister, von der Wirtschaftsmacht, angesichts der deutschen Besserwisserei. Und dann ist das Land doch nur Mittelmaß im internationalen Vergleich "grundlegender Kompetenzen, die zur erfolgreichen Teilnahme an der Gesellschaft und am Berufsleben notwendig sind", den der PIAAC-Test der OECD anstellte.

Allgemein wird er als Pisa-Test für Erwachsene bezeichnet, offiziell als "internationale Studie zur Untersuchung von Alltagsfertigkeiten Erwachsener". Es geht um Humankapital, ist auf der Webseite des PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) zu lesen.

Ernüchternd nennt die Bildzeitung das Ergebnis. Im 232 Seiten dicken PIAAC-Bericht wird das so zusammengefasst:

Das deutsche Schulsystem und die darauffolgenden Bildungsinstitutionen sind anscheinend nicht in der Lage, die gesamte deutsche Bevölkerung mit Grundkompetenzen auszustatten, die über das elementare Niveau von Stufe I hinausgehen.

Lesekompetenz, alltagsmathematische Kompetenz und technologiebasiertes Problemlösen

Die Fragen wurden in 24 Ländern zu drei großen Gebieten gestellt: Lesekompetenz, alltagsmathematische Kompetenz und technologiebasiertes Problemlösen. Kostproben sind auf englisch in Kurzform hier zu finden: Literacy, Reading components, Numeracy und Problemsolving. Auf deutsch finden sich die Aufgabenstellungen für Lesekompetenz auf S.39 f. des PDF, für Alltagsmathematik auf S.52 f und bei der technologiebasierten Problemlösungskompetenz auf S.66f.

Der Hinweis wird deshalb gegeben, weil in Medienberichten über das Erwachsenen-Pisatest vielerorts nur die einfachsten Aufgabenstellungen und Beispiele wiedergegeben werden, der PIAAC-Test aber mehrere Schwierigkeits/Kompetenzstufen abgefragt hat und Stufe IV schon etwas anspruchsvoller ist. Mit der Frage, bis wann man ein Kind spätestens in den Kindergarten bringen muss, wenn in den Regeln an erster Stelle steht, das Kinder spätestens um 9 Uhr abgegeben werden sollen, war es für die Untersuchung nicht getan.

Die Ergebnisse

Für Personen mit Abitur oder Hochschulabschluss führen auch die schwierigeren Fragen nicht zu längerem Kopfzerbrechen. Aber um wohlfeile Selbstbestätigung von Eliten ging es bei der Untersuchung nicht. Sondern um nachvollziehbare, überprüfbare Evaluierung von Grundkompetenzen in der gesamten Bevölkerung in den jeweiligen Ländern. Letztendlich ging es um einen Blick darauf, wie die Chancen verteilt sind. Während die Eliten in Medien täglich gefeiert werden, mit Gesichtern und Vermögensstand, sind andere nur lästige Zahlen: die Unsichtbaren (im "meritokratisch" kaltzynischen Jargon: die "Schmarotzer"), die im Arbeitsmarkt schlecht Fuß fassen oder überhaupt nicht reinkommen.

Lesekompetenz

Der Bericht statuiert eine enge Beziehung zwischen Arbeitstätigkeit und Kompetenzniveaus. Wer draußen ist, bleibt draußen, gefördert wird er oder sie in Deutschland nur wenig, das läßt sich dem Bericht entnehmen. Insbesondere bei der Lesekompetenz:

Erwachsene in Deutschland erzielen im Mittel 270 Punkte und liegen damit zwar numerisch nur knapp, aber statistisch signifikant unter dem OECD-Durchschnitt von 273 Punkten. Die mittlere Lesekompetenz der verschiedenen Teilnehmerländer variiert zwischen 250 Punkten (Italien) und 296 Punkten (Japan). Der vergleichsweise geringe Wert für Deutschland ist vor allem durch Schwächen im unteren Kompetenzbereich verursacht.

Zwar weisen Erwachsene aller Leistungsgruppen in Deutschland leicht geringere Werte als der Durchschnitt aller OECD-Länder auf, am auffälligsten ist dieser Unterschied jedoch im unteren Leistungsbereich. Bei den 25 % Leistungsschwächsten verstärkt sich die Differenz zum OECD-Durchschnitt auf bis zu 6 Kompetenzpunkte. Auch hat Deutschland mit 18 % einen - im Vergleich zum OECD-Durchschnitt - leicht höheren Anteil an Personen, die nicht über die niedrigste Kompetenzstufe I hinaus kommen.

Alltagsmathematische Kompetenz

Bei der alltagsmathematischen Kompetenz sieht es im Land der Ingenieure besser aus. Dort hebt der vergleichsweise hohe Anteil an Personen im oberen Kompetenzbereich das Ergebnis "leicht, aber statistisch signifikant" über den OECD-Durchschnitt von 269 Punkten und garantiert den soliden Mittelplatz.

Im Gegensatz zur Lesekompetenz erzielen Erwachsene in Deutschland im unteren Leistungsbereich vergleichbare Werte zum OECD-Durchschnitt; im oberen Leistungsbereich hingegen höhere Werte. Die leistungsstärksten 25 % der deutschen Erwachsenen erreichen bis zu 5 Kompetenzpunkte mehr als der entsprechende OECD-Durchschnitt.

Technologiebasiertes Problemlösen

Beim "technologiebasiertes Problemlösen" konnten keine Mittelwerte für die Gesamtbevölkerung geschätzt werden, da es Personen gab, "die keine hinreichenden Computerkenntnisse hatten oder die Befragung am Computer aus anderen Gründen verweigerten, keine Werte für diese Kompetenz bestimmt werden". In der Gesamtbetrachtung wird das deutsche Ergebnis hier folgt zusammengefasst:

In der deutschen Bevölkerung insgesamt verfügen 45 % nur über geringe (Stufe I oder weniger), 29 % über mittlere (Stufe II) und 7 % über hohe (Stufe III) technologiebasierte Problemlösekompetenzen. Diese Anteile sind jeweils zwar numerisch etwas höher, jedoch vergleichbar zum OECD-Durchschnitt.

Während in Deutschland also 36 % der Bevölkerung über eine mittlere oder hohe technologiebasierte Problemlösekompetenz verfügen, weist Schweden mit insgesamt 44 %, gefolgt von Finnland und den Niederlanden mit jeweils rund 42 % die vergleichsweise höchsten Bevölkerungsanteile in den Stufen II und III auf.

Die Bildzeitung wie die FAZ haben sich ein anschauliches Beispiel für den Stand dieser Kompetenz aus der Untersuchung ausgewählt: "12,6 Prozent der Testpersonen konnten keine Computer-Maus bedienen."

Ein paar Auffälligkeiten

Für Deutschland hat das PIAAC ein paar Auffälligkeiten ermittelt. Die gute Nachricht dabei ist, dass es um die Kompetenzen bei der jüngeren Alterskohorte besser bestellt ist. Möglicherweise zeigen da die Reaktionen auf die Pisas-Tests erste Früchte. Aber auch diese Untersuchung diagnostiziert, was dem deutschen Bildungssystem sehr häufig vorgeworfen wird: einen auffallend hohen Zusammenhang der Kompetenzen mit der sozialen Herkunft.

Dass es das Ausbildungssystem in Deutschland nicht zuwege bringt, diese Kluft zu schließen, muss zu denken geben. Es hat den den Anschein, dass der politische Wille dazu fehlt. Es geht auch nicht nur um die Schullaufbahn, sondern um mehr, auch um den Ansatz bei der Weiterbildung. So wie die Weiterbildung in Deutschland angelegt ist, fördert es vor allem die, die in Arbeit stehen. Was die Förderung von Langzeitsarbeitslosen angeht, so zeigen sich blinde Flecke (Lernen in der Arbeitszeit - nur für die weiter oben auf der Leiter?).

Die Ergebnisse dieses Berichts zeigen, dass die Personengruppe mit den geringsten Kompetenzen die vergleichsweise geringste Teilnahmequote an formaler Weiterbildung aufweist. Dies mag darin begründet sein, dass zum einen Weiterbildung in Deutschland häufig im betrieblichen Kontext stattfindet und damit eine - anspruchsvolle - Beschäftigung voraussetzt und zum anderen vorhandene Weiterbildungsangebote zu wenig auf die Bedarfe dieser Personengruppe zugeschnitten sind.

Im Übrigen ist dem Bericht zu entnehmen, dass die Grundkompetenzen zwischen Frauen und Männern sich kaum unterscheiden. Leicht bessere Ergebnisse der Männer bei den mathematischen Kompetenzen werden von jüngeren Generationen aufgeholt.

Die Sieger beim Lesen und Rechnen heißen Japan und Finnland.