In Europa breitet sich eine "stille Verzweiflung" aus

Ein Bericht des Internationalen Roten Kreuzes malt ein düsteres Bild von der sich verschlechternden Situation in Europa und fordert eine Abkehr vom Sparen

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Das IFRC (Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung) kritisiert in einem Bericht, der eben veröffentlicht wurde, die Austeritätspolitik in Europa. Obwohl der Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise schon fünf Jahre zurückliegt, würden immer noch Millionen Menschen in die Armut rutschen. Europa sei mit der "schwersten humanitären Krise seit 60 Jahrzehnten" konfrontiert, sagt IFRC-Generalsekretär Bekele Geleta. Es gebe eine graduelle Verschlechterung: Millionen leben von Tag zu Tag, haben keine Ersparnisse und keinen Puffer, um unvorhergesehene Ausgaben leisten zu können".

Die von nationalen IFRC-Gesellschaften bemerkte graduelle Verschlechterung war Anlass für den Versuch, zu Beginn des Jahres die Antworten der Staaten auf die Krise zu bewerten. Festgestellt wurde, dass die Zahl der "Workung Poor" sich vermehrt habe, dass Millionen in Unsicherheit leben, dass die Situation sich verschlechtert, dass sich eine "stille Verzweiflung" ausbreitet, die aber beginne, sich in Demonstrationen, Gewalt und Fremdenhass auszudrücken. Es müsse sich etwas ändern, fordern die Autoren des Bericht, es müsse auch anders gedacht werden. Nicht nur ans Sparen jedenfalls, sondern es gehe um mehr, als Banken zu stützen und Lebensmittel zu verteilen. Die Folgen der Krise jetzt würde man auch dann, wenn sie schnell bewältigt würde, noch Jahrzehnte später merken, beispielsweise wenn an den Gesundheitssystemen gespart wird.

Zwischen 2009 und 2012 ist die Zahl der Menschen in den 22 untersuchten europäischen Ländern, die auf Lebensmittelversorgung durch den IFRC angewiesen sind, um 75 Prozent angestiegen. In vielen Ländern gibt es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, die bis zu 60 Prozent beträgt. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat zugenommen, in vielen Ländern wurden sozialstaatliche Programme gekürzt. 18 Millionen Menschen erhalten von der EU finanzierte Lebensmittelhilfen, 43 Millionen in der EU haben nicht jeden Tag genug zu essen, 120 Millionen stehen an der Schwelle zur Armut.

"Während andere Länder die Armut reduzieren, verstärkt Europa sie." In 17 EU-Ländern sei ein Fünftel der Bevölkerung arm oder ausgeschlossen. Abgesehen von den EU-Ländern Bulgarien, Rumänien, Lettland und Kroatien ist die Armut vor allem in den östlichen Ländern wie Mazedonien, Moldavien oder Armenien besonders stark, viel stärker als etwa in Griechenland oder Spanien. In den meisten Staaten sind die Armen aber mehr geworden. Nicht in allen Staaten, aber in vielen ist in den letzten Jahren die Einkommensungleichheit zwischen den oberen und unteren Einkommen gestiegen.

Der Bericht spricht von "neuen Armen". Zu diesen gehören Geschiedene, Alleinerziehende, Studenten, Familien mit kleinen Kindern, Menschen, die ihren Job oder ihre kleinen Firmen verloren haben, oder Familien, in denen nur eine Person arbeitet. Die Mittelschicht schrumpft. In Ungarn haben 80 Prozent derjenigen, die zur Mittelschicht gerechnet werden, keine Ersparnisse. In Rumänien hat sich die Mittelschicht halbiert. Die Zahl der Mini-Jobber oder der Geringverdiener hat, wie in Deutschland, stark zugenommen - selbst in einem Land wie Deutschland, wo die Arbeitslosigkeit gefallen ist, stieg die Zahl der Menschen, die von ihrem Lohn nicht mehr leben können.

Vor allem die jungen Menschen würden keine Zukunft mehr sehen und das Vertrauen in den Staat verlieren. Der Bericht warnt, es sei absehbar, dass etwas geschehen wird. Dringend wird dazu geraten, die Gesundheitsversorgung und soziale Systeme nicht zu kürzen und soziale Netze zu erhalten oder zu schaffen. Die Rechte von Migranten sollen geschützt und die Integration gestärkt werden. Eine aktive Arbeitspolitik sei notwendig, Unternehmen und Zivilgesellschaft sollten freiwillige soziale Arbeit fördern.