Es wird geharzt und gehungert

Mindestlohndebatte: Wenn der Döner zu teuer wird. Mittelalterliche Zustände auf dem Arbeitsmarkt der Dienstleister

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Ganze 1,59 bis 2,72 Euro Stundenlohn - brutto, versteht sich: Soviel durften die Angestellten eines brandenburgischen Pizza-Services nach getaner Arbeit gnädigerweise mit nach Hause nehmen.

Nach dem Gesetz ist dies sittenwidrig, weil die fraglichen Löhne um mehr als die Hälfte unter dem ortsüblichen Entgelt für vergleichbare Tätigkeiten liegen, so eine Feststellung des Arbeitsgerichtes Eberswalde vom 9. September 2013, das in dieser Sache (Az.: 2 Ca 428/13) wegen einer Klage des Jobcenters Uckermark angerufen wurde.

Ob der Stundenlohn für ein größeres Stück der hauseigenen Margarita gereicht habe, ist indes nicht überliefert. Aber um sich den Genuss, zum Beispiel eines Döners (Kostenpunkt um die 3,00 Euro im Berliner Raum) leisten zu können, müssten die Spitzenverdiener dieses Betriebs immerhin eine Stunde und zehn Minuten schuften1, die weniger gutgestellten sogar fast zwei Stunden!

Nahrungsmittel im Wert von 1,59 Euro (Beim Berliner Discounter, September 2013). Bild: L. Joachim

Unzumutbare Zustände auf dem Arbeitsmarkt

Dass nicht die acht betroffenen Angestellten des Brandenburger Pizza-Services - selbst oder mit Hilfe einer Gewerkschaft - sich gegen ihren Arbeitgeber zur Wehr gesetzt und die erwähnte Klage initiiert haben, sondern das zuständige Jobcenter ist ein Lehrstück über die unzumutbaren Zustände, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt herrschen, und zwar nicht zuletzt aufgrund von weder zeitgemäßen noch adäquaten Regelwerken, die den Missbrauch von Menschen und Staatsleistungen Tür und Tor öffnen.

Der Grund, weshalb die Betroffenen sich solch unwürdige Löhne haben gefallen lassen, liegt auf der Hand: In Brandenburg gibt es, mit einer amtlichen Arbeitslosenquote von 9,4% im August 2013, für Arbeitssuchende kaum die Möglichkeit, wählerisch zu sein. Eine verbindliche Lohnuntergrenze gibt es nicht, und eine tarifverhandlungsfähige Pizza-Service-Gewerkschaft müsste noch erfunden werden. Hinzu kommt, dass die allermeisten Menschen in der Not doch lieber einer unterbezahlten Beschäftigung als gar keiner nachgehen, geht es ihnen doch auch darum, ihre soziale Anbindung bzw. Würde nicht zu verlieren.

Parallel dazu drängen die Jobcenter im Zweifel auf fast jedwede Beschäftigungsaufnahme, um die eigenen Statistiken zu schönen und um Geld zu sparen, denn auch wenn schließlich mit Staatsmitteln mit Hartz-IV aufgestockt wird, können die Ämter den durch Arbeitsaufnahme abziehbaren Leistungsanteil erst einmal als Ersparnis für sich verbuchen.

Abgesehen davon wird die Arbeitslosenstatistik dadurch aufgehübscht, ungeachtet dessen, ob der Arbeitnehmer von seiner Tätigkeit leben kann oder nicht.2 Hauptsache, es wird wöchentlich über 15 Stunden gearbeitet, denn darunter wird von geringfügiger Beschäftigung (Minijob) gesprochen und in diesem Fall gilt für den Arbeitgeber ein weitgehender Entfall der Sozialversicherungspflicht.

Im Zweifel zahlt der Staat

Um den Zusammenhalt der Gesellschaft verfassungskonform zu sichern, hat der Gesetzgeber in seiner Weisheit verfügt, dass Lohnwucher, das heißt ein auffälliges Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt eine Sittenwidrigkeit ist und als solche zu ahnden ist (§ 138 Abs. 2 BGB). In den schlimmsten Fällen kann der Arbeitgeber aufgrund des Tatbestands "Wucher" (§ 291 Abs.1 Nr. 3 StGB) sogar strafrechtlich belangt werden, zum Beispiel wenn der ausgezahlte Lohn weniger als zwei Drittel des üblichen Tariflohns beträgt (BGH, Urt. v. 22.04.1997, Az.: 1 StR 701/96).

Solche sittenwidrige Geschäftspraktiken sind beileibe nicht kleinen Betrieben vorbehalten, wie man denken könnte. Der Textil-Discounter KiK (über 2.600 Filialen in Deutschland; 1,4 Milliarden Euro Umsatz im letzten Jahr), wurde 2008 von Arbeitsgericht Dortmund dazu verurteilt, den Verdienst einer Verkäuferin aus Mülheim an der Ruhr, an der KiK gerade mal 5,20 Euro pro Stunde Lohn auszahlte, wegen Sittenwidrigkeit um 58% anzuheben (AZ 4 Ca274/08).

Im Fall des oben erwähnten Pizzamanns kann man sogar sagen, dass der Tatbestand "obersittenwidrig" wäre, wenn die Väter des BGBs den Begriff als besondere Form der Schuldschwere vorgesehen hätten, denn das Arbeitsgericht Leipzig hat 2010 geurteilt, dass der - um Welten bessere - Brutto-Stundenlohn von sechs Euro einer Fachverkäuferin im Einzelhandel "schon" sittenwidrig ist (Az. 2 Ca 2788/09).

Die Beschäftigung von Menschen im Niedriglohn- und im Subniedriglohnsektor schädigt nämlich nicht nur die einzelnen Arbeitnehmer, wie oft angenommen, sondern auch dem Staat, also die ganze Gesellschaft in erheblichem Maße, denn durch extrem niedrige Löhne werden einerseits Aufstockungsleistungen fällig und anderseits bleiben dem Staat Steuerzahlungen vorenthalten. Somit werden die Sozial- und Rentenkassen der Bürger durch Zahlungsausfälle von den Unternehmen an den Staat und Transferleistung des Staats an die Beschäftigten doppelt belastet.

Der Anspruch auf eine angemessene Entlohnung der Arbeit ist also heute schon gesetzlich verankert und einklagbar. Unpraktischerweise muss der Missbrauch erst einmal mit erheblichem Aufwand für den Betroffenen und die zuständige Verwaltung nachgewiesen werden, bevor die Gerichte sich der Sache annehmen können.