Postgeheimnis

Juristisch bin ich Laie. Aber muss man Jurist sein, um das Grundgesetz zu verstehen?

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Art 10

(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.
(2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.

Absatz 1 des Grundgesetzes scheint unmissverständlich. Weil kurz: Post- und Fernmeldegeheimnis SIND unverletzlich. Da steht nicht "scheinen unverletzlich" oder "waren unverletzlich". Da steht SIND. Präsens.

Absatz 2 definiert die Ausnahme: Beschränkungen sind dennoch möglich.

Ausnahmen von der Regel, dass das Post- und Fernmeldegeheimnis unverletzlich SIND, bedürfen eines Gesetzes. Nachdem nun klar ist, dass nicht nur kleine Drohnen, sondern auch die Königinnen diverser Staatsgebilde abgehört wurden, stellt sich die Frage: Wo ist das Gesetz?

Ganz offensichtlich wird das Fernmeldegeheimnis derzeit verletzt. Sogenannte Nachrichtendienste, staatliche Behörden, lauschen still an den (inzwischen meist digitalen) Datenströmen unserer Gesellschaften. Sie werten die Daten aus. Ziehen Schlüsse. Oder graben Informationen aus, die wertvoll sind.

Wir wissen nicht, wie wertvoll diese Informationen sind und wofür genau man sie verwenden kann. Aber wir ahnen: In einer Welt, in der einzelne Individuen zu märchenhaftem Reichtum gelangen können, kann es Informationen geben, die richtig Geld wert sind. Und manche Informationen mögen noch anderes wert sein als nur schnödes Geld.

Aber genauso wenig wie wir wissen, was genau mit den abgefassten Informationen angestellt wird, wissen wir, beim wem überhaupt mitgelesen wird. Es könnte durchaus legal sein, dass wir nichts davon wissen, wenn wir abgehört werden. Nämlich dann, so interpretiere ich das Grundgesetz an dieser Stelle, wenn der Lauschangriff dem Schutz der demokratischen Grundordnung dient.

Rechtsgelehrte verweisen spätestens jetzt darauf, dass das Grundgesetz nicht in den USA gilt. Natürlich! Das Recht des Post- und Fernmeldegeheimnisses besitzt jeder von uns nur gegenüber Behörden, die in Deutschland sitzen. Alle Nicht-Deutschen müssen sich nicht daran halten. Willkommen in der Globalisierung.

Das Neuland, was die Politiker und mit ihr viele, viele Bürger gerade betreten, ist die Verbindung zwischen planetaren Kommunikationskanälen und nationalen Rechtsspezifika. Man könnte auch sagen: Die reaktionäre Revolution, gegen die die Eltern der demokratischen Grundordnung sorgfältig grundgesetzliche Gegenmechanismen erdachten, kam nicht von der Straße, sie kam konspirativ aus der Telefondose. Die technisch-wirtschaftliche globale Verflechtung der vergangenen 20 Jahre hat eine Lebenswirklichkeit geschaffen, die die Rechtsordnung veraltet hat und eine neue globale Regelung erzwingt. Denn abgehört wird man nicht nur in Deutschland, China, Indonesien oder Brasilien, man wird es auch in den USA, Russland, Saudi Arabien und Liechtenstein. Man wird nicht vom "eigenen Dienst" abgehört. Dafür von dutzenden anderen. Die ihre Daten teilen. Missbrauchspotential: phänomenal.

Egal ob Wirtschaftsspionage, Erpresserdienste oder Insiderhandel, egal ob staatlich oder privatwirtschaftlich organisiert: Informationsbeschaffung ist ein riesiges, oberflächenfernes Geschäftsmodell. Und das Post- und Fernmeldegeheimnis nur Makulatur. Jetzt kann die alte und neue Kanzlerin Merkel den USA und Großbritannien Verträge anbieten, aber sie könnte auch einen Schritt weitergehen. Und das Thema in die UNO tragen. Es geht hier nicht nur um ihr Handy, es geht nicht nur um Deutschland oder Europa, es geht um die Frage, ob das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis auf einem globalisierten Planeten gilt. Oder nicht.