"Eine Gesellschaft mit zum Zerreißen gespannten Nerven, die der Erbitterung und der Wut ausgeliefert ist"

Frankreich: Diesmal sind es nicht die urbanen Zonen, sondern die ländlichen Gebiete. Und es sind die Präfekten der Départements, die vor einem kommenden Aufstand warnen

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Man kennt die abgefackelten Autos aus den Vorstädten, Bilder von brennenden Bushaltestellen und Mülleimern, wenn es in den Banlieues zu Krawallen kommt (11. Nacht: 1408 verbrannte Autos). Manchmal werden auch Feuer vor Fabrikeingängen angezündet, wenn der Unmut unter Arbeitern groß wird, wie zuletzt unter Sarkozy im Jahr 2010. Diesmal ist es anders: Es gärt in der ländlichen Provinz, in la France profonde, wo man sich von den Eliten aus Paris aufgegeben fühlt, bzw. malträtiert. Von Attacken bedroht sind Kontrollbrücken und Säulen der LKW-Öko-Maut; Attacken ausgesetzt ist die Regierung. Die aus aus Französisch-Guayana stammende Justizministerin musste ihr Konterfei gestern auf einem Aufmacher des Magazins "Minute" sehen, mit einem Titel, der sie mit einem "verschlagenen Affen" vergleicht, der "seine Banane wiedergefunden hat".

Dem Land geht es schlecht. Die Zahlen der fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt sind mies; das BIP ist im letzten Quartal geschrumpft, wie heute mitgeteilt wurde. Und andere Kennzahlen der nationalen Statistikbehörde Insee schauen nicht besser aus, die Arbeitslosen- und Armutsquoten nehmen seit Jahren beständig zu, die Kaufkraft ab, folglich auch die Binnennachfrage.

Der Konsum war zuletzt 1993 derart niedrig, das Investitionsklima sei am Boden, berichtet der Nouvel Observateur heute. Sein Résumé: Die Insee Zahlen, die eine Entwicklung über mehrere Jahre statistisch dokumentieren, zeigen "das Gesicht einer französischen Gesellschaft, die einer endlosen Krise gegenübersteht."

Bauern, Bauarbeiter, Lieferfahrer und andere

Ins gleiche Horn, aber mit einer ganz anderen Relevanz, nicht mit Zahlen, sondern mit Erfahrungen aus dem Alltag als Hintergrund stößt ein Brief der Präfekten aller Départements, der in Auszügen heute vom Figaro veröffentlicht wird. Es ist ein Alarmbrief mit viel Zitat-Futter für die Medien (auch hier muss man deren Rolle bei der Erregung mitbedenken):

Überall auf dem Gebiet Frankreichs konstatieren die Präfekten dasselbe Bild einer Gesellschaft mit zum Zerreißen gespannten Nerven, die der Erbitterung und der Wut ausgeliefert ist.

Frankreich befindet sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs, ist ein Artikel vom Oktober in Le Monde übertitelt und die Aussagen der Präfekten illustrieren dies. Die Rede ist von einer Stimmung im Land, die spontan explodieren könnte. Die Proteste in der Bretagne (Frankreich: Eine Ökosteuer als Auslöser eines landesweiten Aufstandes?) seien nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Zeichen von Unzufriedenheit in größerem Ausmaß finde man allerorten. In 23 Départements seien "Bauern, Bauarbeiter, Lieferfahrer und andere mobilisiert, um ihrem Unmut Luft zu verschaffen, wenn die neue Ökomaut für Lastwagen am 01. Januar 2014 in Kraft tritt".

Mittlerweile hat Paris bekanntlich die Ökomaut zurückgezogen und traut sich bislang nicht, ein definitives Datum für das Inkrafttreten des heftig umstrittenen Gesetzes zu nennen. Soviel ist klar: Präsident Hollande hat verspielt, völlig, er ist unten durch. Wie er sich noch retten kann, ist unklar. Ebenso auch die genauen Konturen der Krise, sie hat sich zu einer grundlegenden Vertrauenskrise ausgewachsen, wo es um die Kluft zwischen der Wirklichkeit der gewählten Vertreter in Paris, der repräsentativen Mandatsträgern, und der Wirklichkeit geht, die vor Ort, in echt, wahrgenommen wird.

Zu viel Steuern und Eliten mit Ämterhäufung

Dazu kommen die Steuern, die Maut-Ökosteuer war gewissermaßen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Das Fass sind die seit Jahren steigenden Steuerlasten. Für besonderen Unmut sorgen Steuern, die auf Eigentum, zum Beispiel Wohnungen, erhoben werden, denen keiner entfliehen kann - Tricks gegenüber dem Fiskus sind auch im Nachbarland populär und werden häufig angewandt - , auch Mieter nicht, die das mitbezahlen.

Dass die Eliten in Paris gegenüber solchen und anderen Klagen die Türen zu machen, ist als Kritik schon lange hörbar. Nur hat sie jetzt einen bissigen Unterton bekommen. Zumal in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, gerade unter den Jungen, sich die Ämterhäufung und die Korruptionsfälle der politischen Elite, die in vielen größeren und kleinen Skandalen der letzten Jahre bekannt wurden, nicht gut ausnimmt.

Der Zulauf des rechten Front National ist enorm. Aus der südfranzösischen Stadt Beziers kommt die nächste Alarmmeldung für alle die, die von einem repubikanischen Konsens ausgehen, der den rechten FN ausschließt: Der von dem FN unterstützte Kandidat für die Bürgermeisterwahl liegt laut Umfragen gleichauf mit dem UMP-Kandidaten. Vor einiger Zeit wäre dies noch eine Sensation gewesen, jetzt gehören solche Meldungen beinahe schon zur Routine der letzten Wochen, sind "normal" unter dem Präsidenten, der als Monsieur Normal das Amt antrat.

Die Stunde der Extremisten

Schon die großen Demonstrationen gegen die Ehe-Reform zugunsten gleichgeschlechtlicher Partnerschaften haben gezeigt, welches Mobilisierungspotential vom rechten Rand aus möglich ist, welche Öffentlichkeit reaktionäre Anschauungen bekommen können. Den etablierten Parteien haben große Schwierigkeiten diese Dynamiken zu verstehen, geschweigen denn zu integrieren, die mit heftiger Abneigung und Verachtung gegenüber dem repräsentativen System agieren.

Das Extremismusphänomen ist größer als der FN, der unter Marine Le Pen viel Wert darauf legt, nicht in einen Topf mit den Radikalsten geworfen zu werden, wie die Affäre Taubira zeigt. Das Titelbild von "Minute" mit dem hässlichen, verachtenden, rassistischen Affenvergleich mit der dunkelhäutigen Justizministerin Taubira, deren Intelligenz, Sprachgewandtheit und Kultur (Mediapart) weit über derjenigen liegt, die für solche Produkte verantwortlich sind, hat in Frankreich neben großer Entrüstung auch anderes gezeigt: die deutliche vernehmbare Zurückhaltung des FN, nachdem - ein Testballon? - eine ähnlich rassistische Äußerung gegenüber Taubira aus Kreisen der FN einige Wochen zuvor für viele bestätigte, dass der FN weiterhin im Wesen rechtsextrem und rassistisch ist, trotz der Kosmetik von Marine LePen.

Die FN-Führung hat sofort reagiert, das Mitglied, das die Äußerung getätigt hatte, wurde öffentlich von Ämtern suspendiert. Zu weit rechts darf das Image nicht mehr sein. Man grenzt sich ab vom allzu rechten, fanatischen Rand und paktiert mit Gesinnungsgenossen in anderen Ländern, Wilders z.B.. Das politische Klima ist günstig für Wölfe im Schafspelz.