CDU und SPD: Die Große Stagnation

Im September wurde ein neuer Bundestag gewählt. Richtig arbeiten kann er bis heute nicht. Dafür sorgen Christ- und Sozialdemokraten

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Wie eine Große Koalition der parlamentarische Demokratie in den kommenden vier Jahren schaden könnte, stellten ihre möglichen Mitgliederparteien bereits an diesem Montag unter Beweis. Bei der Debatte über die Spionageaffäre um den US-Geheimdienst NSA und den Whistleblower Edgar Snowden kamen von den Oppositionsrednern Gregor Gysi (Linke) und Hans-Christian Ströbele (Bündnis90/Die Grünen) zwar deutliche Worte an die nach wie vor bestehende Bundesregierung. Die entsprechenden Entschließungsanträge (hier und hier) aber bleiben folgenlos. Um sich in ihrer Rolle als Noch-Opposition und Schon-Regierungspartei nicht bloßzustellen, verweigerten sich die Sozialdemokraten einer Abstimmung zur NSA-Affäre, um sie an einen sogenannten Hauptausschuss zu überweisen. Der muss allerdings noch gegründet werden.

Bundestag - entmachtet? Bild: JesterWr/CC-BY-SA-3.0

Durch diesen Winkelzug gelang es dem Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, eine Abstimmung zu verhindern. Diese hätte seine Genossen zu einer womöglich unangenehmen Positionierung gezwungen. Denn eigentlich hätte über die Anträge von Linken und Grünen sofort abgestimmt werden müssen. Um dies zu vermeiden, werden Anträge gemeinhin an die zuständigen Fachausschüsse verweisen. Doch die hat der 18. Deutsche Bundestag noch nicht.

Nach dem gewohnten Procedere wird zunächst die Regierung gebildet, um dann die parlamentarischen Gremien einzuberufen. Mit der Gründung des von Oppermann unterstützten "Hauptausschusses" des Bundestags gelang den Parteien der wahrscheinlichen Großen Koalition ein doppelter Coup: Zum einen verhinderten sie eine Entscheidung über die Entschließungsanträge. Zum anderen blockierten sie die Forderung der Linksfraktion, die ständigen Ausschüsse schon jetzt zu schaffen und damit die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes herzustellen.

Verfassungsrechtlichen Bedenken, nach denen parlamentarische Anträge nicht an einen noch nicht existierenden Ausschuss verweisen werden können, schenkte die De-facto-Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten kein Gehör. Das Intermezzo bestätigt die mehrfach geäußerten Befürchtungen vor dem undemokratischen Charakter einer Vier-Fünftel-Regierungsmehrheit.

Antrag der Linken auf Einsetzung von Ausschüssen abgelehnt

Dabei hatten die Linken noch am Montag versucht, das "eigenartige Zwischenstadium" zu überwinden, wie es die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Steffi Lemke, nannte. Sie reichten eine Petition ein, um auf der Basis der parlamentarischen Geschäftsordnung neun Ausschüsse einzusetzen, darunter die Gremien für den Haushalt, Finanzen, Justiz, Verteidigung und Auswärtiges. Zugleich reichte die Linksfraktion einen weiteren Antrag über die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen in den Ausschüssen ein.

Beide Vorstöße wurden abgelehnt. Zuvor schon hatte Fraktionschef Gysi von einem "erzwungenen Streik" des Parlaments gesprochen. Wie es nun weitergeht, ist niemandem der Beteiligten klar. Ebenso wenig, wann die nächste ordentliche Sitzung des Bundestags stattfinden wird. Die kommenden Wochen bis zur Wahl der Regierungsspitze drohen so zur parlamentarischen Farce zu werden. Dazu trägt auch bei, dass sich die - durchaus möglichen - Anfragen der neuen Bundestagsmitglieder zum erheblichen Teil an die abgewählten FDP-Minister richten. Doch deren Antworten interessieren niemanden mehr.

Die Entmachtung des Parlaments stößt nicht nur bei Linken und Grünen auf Kritik. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte gegenüber der Süddeutschen Zeitung die rasche Einsetzung der ständigen parlamentarischen Ausschüsse gefordert. Der Stillstand der Bundestagsarbeit halte er "weder für plausibel noch für notwendig", sagte der CDU-Politiker.

Lammert will zumindest die vom Grundgesetz geforderten Gremien zum Laufen bringen. Dazu gehört neben den Ausschüssen für Europapolitik, Bürgerpetitionen und Verteidigung ausgerechnet auch das Parlamentarische Kontrollgremium für die Geheimdienste. Dass dessen Konstituierung verhindert wird, während die Entschließungsanträge zur NSA-Affäre an einen Alibiausschuss verwiesen werden sollen, sorgt in den Reihen von Linken und Grünen für besondere Empörung.

Linken-Geschäftsführerin Sitte: Mehrheitsfähige Anträge liegen auf Eis

"Das Parlament ist ohne Ausschüsse faktisch kein Gesetzgeber, denn Gesetzentwürfe müssen in Ausschüssen behandelt werden", sagte im Telepolis-Interview die Fraktionsgeschäftsführerin der Linken, Petra Sitte. Auch eine Regierungsmehrheit sei ohne Ausschüsse nicht handlungsfähig. Die Opposition könne die Regierung zwar kritisieren, doch jegliche Vorstöße liefen derzeit ins Leere, so Sitte: "Meine Fraktion hat bereits fünf mehrheitsfähige Initiativen eingebracht - etwa zum Mindestlohn oder zur Abschaffung des Betreuungsgeldes -, die nun zwangsläufig auf Eis liegen." Die Ausschüsse würden zwar in der Öffentlichkeit oft nicht so stark wahrgenommen. Trotzdem liege das Parlament ohne sie lahm.

Den von CDU und SPD ersonnenen "Hauptausschuss" würde lediglich in einer "verlängerten Plenardebatte" enden, sagte die Linken-Abgeordnete. Daher habe ihre Fraktion am Montag die Etablierung von neun Ausschüssen verlangt, "damit das Parlament acht Wochen nach der Wahl endlich arbeiten kann". Schließlich habe auch der CDU-Mann Lammert darauf verwiesen, dass eine geschäftsführende Bundesregierung parlamentarische Kontrolle braucht. "Aber unser Wunsch ist von einer noch gar nicht existierenden Koalition abgeschmettert worden, weil deren Fraktionen intern ihre Personalentscheidungen erst nach der Regierungsbildung treffen wollen", beklagte Sitte.

Ein verstärktes Engagement im außerparlamentarischen Bereich ist für Sitte keine Alternative: "Das pflegt meine Fraktion ja schon immer sehr intensiv." Die Linkspartei sei aus den Protestbewegungen gegen die Agenda 2010 entstanden "und wir engagieren uns im Rahmen unserer Möglichkeiten schon lange in außerparlamentarischen Bündnissen". Dies schlage sich etwa bei den Aktivitäten zum Schutz von Edward Snowden nieder. "Aber das Pendant zur außerparlamentarischen Bewegung ist eben das Parlament, der Gesetzgeber", so Sitte. Und dieser werde derzeit bei einer geschäftsführenden schwarz-gelb besetzten Regierung von SPD und Union handlungsunfähig gemacht. "Für unsere Demokratie ist das ein verheerender Zustand", so ihr Urteil.

Grünen-Geschäftsführern Haßelmann: Opposition braucht Kontrollfunktion

Ähnlich wie Sitte äußerte sich auf Telepolis-Nachfrage die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann. "Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit von Koalitionsverhandlungen muss der Bundestag seiner verfassungsmäßigen Aufgabe nachgehen", sagte sie am Dienstag. Auch die derzeitige geschäftsführende Bundesregierung bedürfe der Kontrolle durch den Bundestag. Schließlich laufen Ende des Jahres drei Mandate der Bundeswehr aus, die eine Beteiligung des Parlaments voraussetzen. Sofern ihre Fortführung geplant ist, bedürften die Militärmissionen OAE, UNMISS und UNAMID dem Votum des Parlamentes.

Derzeit stünden zudem viele Fragen zu Themen wie dem NSA-Abhörskandal an. "Doch die Abgeordneten des Bundestages können nicht von ihrem Recht Gebrauch machen, die Bundesregierung in einer mündlichen Fragestunde zu hinterfragen", beklagte Haßelmann, die zudem auf die noch ausstehende Verabschiedung von zwei Gesetzen aus dem Bundesrat verwies: Das AIFM-Gesetz und das Kita-Finanzhilfegesetz. "Hierzu muss es ein ordentliches Verfahren mit den vorgesehenen Lesungen im Bundestag und Beratungen in den Fachausschüssen geben", sagte Haßelmann.

Der Idee eines "Hauptausschusses" hätte die Grünen-Fraktion nach ihren Angaben grundsätzlich zugestimmt. Doch die Bundestagssitzung am Montag habe diese Haltung verändert. "CDU/CSU und SPD wollen anscheinend einen noch einzurichtenden 'Hauptausschuss' mit allen möglichen Vorhaben überfrachten", sagte die Fraktionsgeschäftsführerin der Grünen: "Das halten wir für falsch und außerdem kann ein solcher Ausschuss nicht die fehlenden Instrumente parlamentarischer Arbeit ersetzen." Dazu gehöre das Recht, mündliche Fragen zu stellen.

Auch Haßelmann setzt "selbstverständlich" auch auf außerparlamentarische Arbeit. "Damit eine Opposition überhaupt ihre Kontrollfunktion wahrnehmen kann, sind aber Parlamentsdebatten, fachliche Beratungen in Ausschüssen und die Möglichkeit unerlässlich, die Regierung öffentlich zu befragen."