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Indirekte Aggression: Welches Geschlecht tut sich hervor?

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Wir blenden zurück zu den Anfängen der Zivilisation: zu den alten polygynen Gemeinschaften, wo Männer mit mehreren Frauen zusammen waren und zwar in der Form, dass nur sie mit ihnen geschlechtlich verkehren durften. Dies hatte einen harten Konkurrenzkampf der Männer, die sich fortpflanzen wollten, zur Folge. Die Frauen indessen waren in dieser Hinsicht ziemlich abgesichert. Sie hatten also weniger Grund dazu, sich mit Gewalt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.

Dieser Blick hat angeblich lange Zeit weite Teile der auf Gewalt ausgerichteten Evolutionsforschung dominiert. Aus den so dargestellten Verhältnissen wurde geschlossen, dass Männer mehr Gewalt nötig hatten, um sich gegen ihre Konkurrenz durchzusetzen als Frauen.

Der Einsatz der Hörner von Tieren beim Balzkampf bestätigte diese Sichtweise aus der Naturbeobachtung, der Einsatz von Waffen bei Männern wurde analog gesehen. Die Anwendung direkter Gewalt sei in der Hauptsache ein männliches Phänomen, so die Behauptung. Der Fortpflanzungstrieb ist dabei der allwaltende große Beweger. Die Wahl und die Eroberung der begehrten Frauen das große Ziel. Frauen dagegen hatten solche Mittel nicht nötig.

Dass sie deswegen gänzlich auf Gewalt verzichten, wollten auch die Anthropologen und andere Evolutionsforscher nicht behaupten. Auch Frauen stehen ja in Konkurrenz mit anderen Frauen um die Männer, die die besten Gene haben und den Müttern und Kindern den besten Schutz bieten können. Heute, in einer verbreiteten monogamen Beziehungskultur, sei die Konkurrenz noch stärker als in vormaligen Zeiten.

Indirekte, relationale Gewalt

Die Gewalt, die Frauen dabei anwenden, wird im Gegensatz zur männlichen meist als indirekte Gewalt kategorisiert. Aktionsboden der indirekten Gewalt sind Beziehungen. Mit dem Einsatz beziehungspsychologischer Mittel werden die Konkurrentinnen wahlweise entzaubert oder dämonisiert, als antisoziale Mitglieder aus der Gemeinschaft gedrängt.

Lange Zeit habe die weibliche Gewaltanwendung im Wettbewerb kein sonderlich großes Interesse in der Forschung gefunden. Es gab nur "anekdotische Anzeichen und intuitive Hinweise" für/auf diese Komponente der "weiblichen Natur", von der Forschung wurden sie nicht bestätigt, wird in der New York Times die renommierte Anthropologin Sarah B. Hrdy, die viel auf dem Feld der Evolutionsbiologie gearbeitet hat, zitiert.

Das habe sich in letzter Zeit aber deutlich geändert, wie die aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift Philosphical Transactions dokumentiert. Dort wird eine ganze Reihe von interdisziplinären Forschungsarbeiten zum Thema Gewalt und Frauen vorgestellt.

Eine schöne Frau, ihre "Waffen" und die Reaktionen darauf

Auch unter den aktuellen Arbeiten finden sich eingängige Bilder, die veranschaulichen, warum auf Evolution basierende Gesprächsthemen so beliebt sind, wenn es um Erklärungen von menschlichen Beziehungen geht. Es genügt eine schöne Frau, ihre "Waffen" und die Reaktionen darauf, um uns vor Augen zu halten, dass wir dauernd nur das große Leitmotiv, gesponnen um den Fortpflanzungstrieb, wiederholen und variieren. Das ist auf schöne Art "einfach kompliziert" und kommt ohne die verwirrenden Komplexitäten multivariabler Einflüsse aus, mit denen wir sonst zu kämpfen haben, etwa wenn es um Wirtschaftwachstum, Arbeitsplätze oder Klimawandel geht.

Eine junge Frau, mit signalstarken Taille-Hüft-Verhältnis und anderen sichtbaren Reizen, die in einer "evolutionären Sichtweise als attraktiv gelten" (Tracy Vaillancourt), betritt einen Raum, wo Studentinnen auf die Leiter einer Diskussion über "weibliche Freundschaften" warten (dies war der Vorwand, zu dem die Wissenschaftler ihre Probanten geladen hatten). Im ersten Experiment ist die junge Frau unauffällig gekleidet. So ruft ihre Frage, die sie laut an die anwesenden Frauen stellt, wo denn der Diskussionsleiter sei, keine nenneswerten Reaktionen hervor. Anders beim zweiten Experiment.

Hier tritt sie mit einer engen, knappen Bluse und einem Minirock auf. Die Reaktionen schon während ihres Auftritts, aber vor allem nachdem die junge Frau den Raum wieder verlassen hatte, waren von Feindseligkeit und Wut gezeichnet. Über sie wurde gehässig geredet, ihre Motive ins Obszöne gezogen, sie wurde als "Bitch" wahrgenommen, die dem Studienleiter an die Wäsche will, weswegen sie ihre Brüste bis zum "Pop out" aus der Bluse präsentiere. Die Psychologin, die die Untersuchung durchführte, Tracy Vaillancourt, kommentiert das Ergebnis:

Frauen sind tatsächlich sehr befähigt zur Aggression gegen andere, besonders gegen Frauen, die sie als Rivalen begreifen. Die Forschung zeigt ebenso, dass die Unterdrückung der weiblichen Sexualität durch andere Frauen und nicht notwendigerweise durch Männer geschieht.

"Weitverbreitete evolutionäre Signifikanz weiblichen Wettbewerbs"

Das ist an sich nichts Neues, aber es fügt sich laut der Zeitschrift Philosophical Transactions in ein neu dargelegtes großes Muster, das sich aus mehreren Arbeiten ergibt, die allesamt Beweise für das Vorhandensein einer "weitverbreiteten evolutionären Signifikanz weiblichen Wettbewerbs" vorlegen.

Obwohl die weibliche Aggression mehrere Formen annehmen kann, heißt es dort in einer Zusammenfassung, sei eine Gemeinsamkeit auffallend: die Neigung zu Wettbewerbsstrategien, die als "low-risk" bezeichnet werden, weil sie das Risiko einer körperlichen Auseinandersetzung, so gut es geht, vermeiden. Erklärt wird dieser Grundzug der Vermeidung direkter Gewalt mit der in den Frauen tief verankerten Sorge um den Nachwuchs, der auf die Mutter angewiesen ist. Daher sei die "indirekte Aggression" eine bevorzugte Durchsetzungsform im Wettbewerb unter jungen Frauen.

Deren Ziel ist die Ausschaltung von Konkurrentinnen, die ihrer sexuellen Attraktivität wegen gefährlich sind. Würden Anzeichen von Promiskuität wahrgenommen, sei die Bindung des Mannes - wichtig für das eigene Versorgung und das der Kinder - gefährdet. Die Wahl der Waffen und der Art und Intensität von Gewaltanwendung kann allerdings variieren.

Als Beispiel wird etwa auf Girlgangs in armen Wohnvierteln, wo die Ressourcen knapp sind, verwiesen. Dort kommt es bekanntlich auch zu gewalttätigen Kämpfen. Auch hier, so die Annahme, stelle die Angst, neu hinzukommende Frauen könnten Männer "stehlen", ein wichtiges Motiv:

Aware of men's taste for novelty, gang girls are extremely sensitive to the arrival of new girls in the neighbourhood.

Allein das Spektrum der indirekten weiblichen Gewalt ist den Wissenschaftlern zufolge sehr groß. Für einige zählt auch das forcierte Idealbild des dünnen Mädchens dazu. Bemerkenswert daran ist, dass die Arbeit von Christopher J. Ferguson et al. zum Ergebnis kommt, dass der Druck nicht, wie häufig dargestellt, in erster Linie von Medien vermittelt wird, sondern vor allem aus dem direkten Konkurrenzkampf der Altersgenossinnen stammt. Die Peers und nicht die Medien seien für den Einfluss verantwortlich, so die Aussage der Experimente des Gewaltforschers der Stetson University.

Mean Girls & Mean Boys?

Doch gibt es Medieneinflüsse. Im Amerikanischen hat der Begriff "Mean Girls", übersetzt etwa mit "fiese Mädchen", für junge Frauen, die ihre Geschlechtsgenossinnen dissen, schikanieren, dem Spott preisgeben, aus der Gemeinschaft der Besseren, Attraktiven ausschließen etc., Einzug gehalten. An der Verbreitung des Begriffs ist ein gleichnamiger Film mit Lindsey Lohan nicht unschuldig.

Ob damit Verstärker- oder Nachahmereffekte bei Mädchen oder jungen Frauen einhergehen, ist reine Spekulation. Aber die kanadische Zeitung The Star hat sich den Mythos "Mean Girl" in einem längeren Artikel, bei dem ebenfalls Verhaltenswissenschaftler zu Wort kommen, vorgeknöpft und herausgefunden, dass "indirekte, bzw. Beziehungs-Gewalt" keine ausschließliche Domäne von Mädchen bzw. Frauen ist. Zitiert werden gleich mehrere, sogar landesübergreifende Studien, wonach männliche Teilnehmer mehr indirekte Gewalt anwenden als weibliche.

Erwähnt wird auch eine Metastudie, die aus der Analyse von 107 Studien das Fazit zieht, dass es "keinen bedeutenden Unterschied in der Anwendung indirekter Gewalt zwischen Jungen und Mädchen" gebe. "Solche kleinen Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden allzu oft stark vereinfacht in Aussagen der Art gegossen 'Männer sind so und Frauen sind anders'", wird der Psychologe Noel Card, zitiert: "Ich mache mir Sorgen, dass diese Unterschiede dazu führen, dass Verhaltensweisen vernachlässigt werden, die nicht zu solchen Stereotypen passen."

...Mean Culture!

Also alles wieder zurück auf Anfang? Die Zeitung aus Toronto hat den Faden weitergesponnen. Sie verfolgt in einem anderen Artikel nicht mehr nur die Spur von mean girls oder mean boys, sondern die mean Mainstreamculture: Fernsehprogramme, Facebook, Internet-Foren, SMS-Nachrichten - alles ist voll von indirekter, über Beziehungen agierende und darauf ausgerichtete Gewalt.

Während Forscher Jahre damit zubrachten, den Wirkungen von körperlicher Gewalt in Filmen und Unterhaltungsmedien generell nachzugehen, ist wenig über die "relationale Gewalt" bekannt, bei der die Waffen Gerüchte sind, üble Nachrede, Tratsch, der Ausschluss von Gleichaltrigen, das Isolieren über Schweigen, Intrigen, Kälte und was es sonst so gibt, um das Gefühl für die soziale Position einer Person zu schädigen.

"Mean" sei als gängiges Prinzip nicht nur im Reality-TV, in Castings-Shows etc., sondern ebenso in "Online-Kulturen" häufig zu beobachten, auch in Foren sieht Autor Vinay Menon, Entertainment-and-life-Kolumnist der Zeitung, seinen Satz bestätigt, wonach die Fiesigkeit sich überall eingenistet hat:

It’s cool to be cruel.