Mehr Ideologie!

Über den (Un-)Sinn der universellen Koalitionsfähigkeit aller im Bundestag vertretenen Parteien

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Die gegenwärtig diskutierten Koalitionsmöglichkeiten und geplanten Koalitionen zeigen es mit aller Deutlichkeit: Prinzipiell müssen alle Parteien im Deutschen Bundestag miteinander koalitionsfähig sein. Ausschlusskriterien sind nicht Inhalte, sondern ausschließlich Pragmatismus und Realitätssinn. Was das bedeutet, kann man sich an den Bundesregierungen der letzten acht Jahre ansehen: Verwaltung des Bestehenden, Moderation des Verlustes von Statusansprüchen unterer sozialer Schichten und Preisgabe jeglicher gestalterischer Politik.

Alles vermischen? Bild: Quark67/CC-BY-SA-2.5

Insofern muss natürlich nun die geplante Schwarz-Grüne Koalition in Hessen als Sieg des Pragmatismus gesehen werden. Lärmgeplagte Flughafenanrainer und ihre Interessensvertretungen verlieren ihren letzten natürlichen Partner in der Politik, der Primat der Ökonomie wird nun endlich auch von den Grünen vor den der Ökologie gestellt. Auch sonstige Unterschiede, die man als langjähriger Beobachter des politischen Systems zwischen Schwarz und Grün meinte selbst dann noch erkennen zu können, nachdem eine zutiefst bürgerliche Regierung in Baden-Württemberg im Mai 2011 unter dem Deckmantel der Grünen Partei ihre Arbeit aufnahm, verlieren sich im Koalitionsgeplänkel. Die Grünen einst als emanzipatorische Bewegung für mehr Bürgerrechte, Gleichstellung der Geschlechter und den Primat der Ökologie in die Politik eingestiegen, prüfen nun eine Koalition mit ihrem ideologischen Feind auf genau diesen Feldern.

Man kann sich aber auch die Frage stellen, warum die SPD eigentlich eine Koalition mit der CDU nicht ausschließen sollte. Bis auf die Gemeinsamkeit, die Ökonomie für wichtiger als die Ökologie zu erachten, sind eigentlich nur eklatante Widersprüche auszumachen. Die Konsequenz einer großen Koalition wird also die sein, dass nun alles so weiterläuft wie bisher. Keiner muss befürchten, dass sich irgendetwas ändern wird in dieser Republik, dank dem Ende der Ausschließeritis.

Aber, so fragt sich der geneigte Beobachter, könnte dies der Tropfen sein, der das berühmte Fass zum Überlaufen bringt, der also die sogenannte Politikverdrossenheit in neue Höhen treibt? Wenn jeder grundsätzlich mit jedem koalieren kann, um gemeinsam politisch zu gestalten, dann wäre die logische Konsequenz doch die Abschaffung der Parteien und der Wahlen. Die Zusammensetzung des politischen Personals scheint für die deutsche Politik unwichtig zu sein - bis auf geringfügige Unterschiede wollen doch sowieso alle das Gleiche und der angestrebte Weg dorthin scheint nur geringfügig zu variieren.

Politik und die sie betreibenden unterschiedlichen Parteien müssen aber, wollen sie ihre Funktion der Interessensvertretung, der Meinungsaggregation und -artikulation sinnvoll wahrnehmen, auch wirklich unterscheidbare Alternativen anbieten. Und wenn das so ist, dann verbietet es sich eigentlich, nur um sichere Mehrheitsverhältnisse für die Bewahrung des status quo zu schaffen, in allen erdenklichen Konstellationen miteinander zu koalieren. Gegensätze und unterschiedliche Politikkonzepte müssen genau dies sein und bleiben: unverwechselbar in ihren Konsequenzen. Alternativen im wahrsten Sinne des Wortes. Nur wenn das so ist, kann man von einem pluralen Mehrparteiensystem sprechen. Nur dann kann der Wähler einen guten Grund finden, wählen zu gehen, um somit seinen politischen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen.

Natürlich ist das Parlament ein Ort des Kompromisses. Dieser sollte aber jeweils im Parlament in der Sache erstritten, und nicht per Kuhhandel in den Koalitionsverhandlungen - "Wir bekommen die Ausländermaut, ihr dafür die Miniquote für Frauen" - ausgemauschelt werden.

Das erfordert im Zweifel aber auch von den Regierten, dass sie willens sind, sich von einer Minderheitenregierung mit wechselnden Mehrheiten regieren zu lassen und nicht schon jede Meinungsverschiedenheit als Krise des politischen Systems aufzufassen. Nur so werden politische Alternativen wirklich sichtbar und öffentlich diskutiert. Nur so kann jedem Einzelnen klar werden, was es mit den unter den gleichen Begriffen sich versteckenden völlig unterschiedlichen Auffassungen von Gerechtigkeit, Freiheit, Energiewende, Nachhaltigkeit, Bildung etc. jeweils auf sich hat.

Unterschiede statt koalitionäres Abschleifen der Standpunkte

Spätestens hier wird klar, diese Unterschiede lassen sich nicht immer per Koalitionsvertrag ausräumen. Sie sind fundamental - und das ist gut so. Die Unterschiede, die prinzipiell zwischen den Parteien bestehen, würden so sichtbar werden. Wenn man keine Koalition mehr ausschließt, und Herr Söder auf einmal das gleiche Lied pfeift wie Herr Schäfer-Gümbel, dann ist doch klar, dass der Wähler keine Lust mehr hat, Beschaffer der Legitimation von Stillstand, Ideenlosigkeit und schlechten Kompromissen zu sein.

Anstatt also auf Teufel komm raus nach Koalitionen, die irgendwie noch eine Mehrheit bekommen, zu suchen, sollten die Parteien sich auf die Suche nach erkennbaren Standpunkten und "Alleinstellungsmerkmalen" machen.

Statt des über Unterschiede hinwegfegenden Konsenses auf den kleinsten gemeinsamen Nenner eines "Weiter so!" sollte man auf die Kraft des Agonismus, der im Streit und der Diskussion getroffenen Entscheidung, setzen, um so tatsächlich Politik zu machen. Diese so gewonnene Politik kann sich dann den mannigfaltigen aktuellen Herausforderungen, denen sich die Gesellschaft ausgesetzt sieht, widmen.

Dabei darf "Ideologie" nicht als Schimpfwort verstanden werden, sondern ganz im klassischen wertfreien Sinne, als klare Linie und erkennbares Konzept einer Weltanschauung. So verstanden schafft sie klare Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit und macht politische Entscheidungen auch eindeutig zurechenbar.

Tobias Bevc ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Universität Augsburg Politische Theorie.