Bildung als mediale Ware

Der Unterricht im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit - Teil 2

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Die Informationstechnik wälzt alles um, wieder einmal. Massive Open Online Courses sind, was im Management-Jargon "game changer" genannt wird, eine "disruptive Innovation", die bestehende Strukturen unter Druck setzt und einen Teil von ihnen vernichten wird. Wie umfassend die "kreative Zerstörung" sein wird, wird davon abhängen, welche Rolle die MOOCs auf dem Arbeitsmarkt spielen werden.

Teil 1: Ein Weltmarkt für Internet-Bildung.

Bisher sind die Nutzer vor allem Studierende, die mit dieser kostenlosen Nachhilfe ihre Wissenslücken schließen wollen, andererseits hochqualifizierte Berufstätige, die ihre Aufstiegschancen im Betrieb oder ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern wollen. Ein Zeugnis von Coursera in der Bewerbungsmappe führt immer noch zu Verwunderung und macht wenig Eindruck. Aber wird das so bleiben?

Dass Internet-Plattformen Prüfung und Zertifizierung der Studierenden ganz übernehmen werden, ist unwahrscheinlich. Trotz einer Gesichtskontrolle mit der Webcam und angeblich individuellen Tipp-Rhythmen lassen sich Betrug und Manipulation kaum auszuschließen. Einfallsreichtum und kriminelle Energie werden umso größer, je wertvoller die Bescheinigungen werden. Daher werden Abschlussprüfungen auch in Zukunft in der Regel vor Ort geschrieben werden, so wie es heute bei Fernstudiengängen üblich ist. Erste Ansätze dazu gibt es bereits. MOOCs werden in den existierenden akademischen Betrieb integriert werden - und diesen grundlegend verändern. Hochschulbildung wird noch mehr als bisher ins Netz stattfinden, und private Firmen werden eine größere Rolle in ihr spielen.

In den USA ist bereits unübersehbar, wie MOOCs das Bildungssystem umformen. Offen debattieren dort Bildungspolitiker und Uni-Funktionäre, wie sehr Internetlehrgänge zur Effizienzsteigerung / Rationalisierung taugen. Gleichzeitig verschärft die Netztechnik die Privatisierungs- und Monopolisierungstendenzen im Hochschulsektor.

Die tertiäre Bildung in den USA steckt gegenwärtig in einer tiefen Krise. Von wenigen Elite-Universitäten abgesehen herrscht überall Finanznot. Seit 2008 sinkt die Finanzierung durch den Staat, Personal wird abgebaut. Studiengebühren sind für die Hochschulen zu einer wichtigen Einkunftsquelle geworden und trotz der Wirtschaftskrise kontinuierlich gestiegen. Weil die Akademikerarbeitslosigkeit vergleichsweise hoch liegt, wird ein Studium für Schulabgänger zu einer riskanten Investition. Daher erscheinen ihnen kostenfreie Angebote im Netz als mögliche Alternative. Sinkende Bewerberzahlen verschärfen aber die Konkurrenz um Gebühreneinnahmen.

Fast alle US-Hochschulen bieten eigene Online-Kurse über Lernplattformen wie Moodle an. Häufig werden herkömmliche Seminare durch die Internetlehre ergänzt; der Fachbegriff lautet "integriertes Lernen". Auf dieser technischen Infrastruktur können aber genauso gut MOOCs aus anderen Quellen geboten werden. Einige US-Hochschulen übernehmen bereits Internetkurse, die in Eliteuniversitäten wie Harvard entstehen, und setzen sie als verpflichtende Einführungsveranstaltung ein. Der Uni vor Ort bleibt dann die Durchführung der Prüfungen und die Offline-Betreuung (sofern eine solche überhaupt stattfindet).

Diese Expansion der MOOCs in die reguläre akademische Ausbildung wird staatlich gefördert. In den Bundesstaaten Kalifornien und Florida können weiterführende Schulen und Universitäten mittlerweile MOOC-Leistungsnachweise anerkennen. Ein kalifornischer Gesetzesentwurf sah sogar vor, dass Studentinnen und Studenten, die keinen Studienplatz bekommen, einen Rechtsanspruch auf die Anerkennung ihrer MOOC-Prüfung haben. Das Gesetz hätte bedeutet, dass fortan staatliche Einrichtungen gezwungen gewesen wären, die Zertifikate bestimmter privater Bildungsanbieter anzuerkennen. Viele Dozentinnen und Dozenten reagierten empört auf diese Idee. Der Senat der Universität von San Diego protestierte in einem offenen Brief:

Das Gesetz richtet sich dagegen, dass der Zugang zu Kursen für Studenten beschränkt ist. Erstens ist diese Beschränkung zu einem Großteil das Ergebnis davon, dass die staatliche Finanzierung der Hochschulen massiv gekürzt wurde, besonders in den vergangenen sechs Jahren. Zweitens zeigen sich in dem Entwurf deutlich die Interessen privater, profitorientierter Unternehmen, die auf eine Privatisierung der Hochschulbildung hinarbeiten. Drittens ist es die Aufgabe der Fakultäten, Kurse danach zu beurteilen, ob sie Leistungsnachweise wert sind. Keinesfalls werden wir diese Aufgabe an eine andere Organisation abtreten.

Viele Angestellte an den Hochschulen befürchten, dass mit MOOCs der Personalabbau weiter vorangetrieben wird. Andererseits sorgen sich kleinere Hochschulen, dass sich die Kluft zwischen ihnen und den Elite-Unis vertiefen wird. Nur eine kleine Minderheit der amerikanischen Studierenden wird in Stanford und ähnlich exklusiven Instituten ausgebildet. Dort konzentrieren sich Forschung und Einnahmen aus Gebühren und aus der Privatwirtschaft. Dort sind die großen Namen unter den Lehrkräften. Gut gemachte MOOCs kosten Geld, und die akademischen Marktführer sind da klar im Vorteil. Hierzulande ist die Hochschullandschaft weniger hierarchisch strukturiert. Aber Befürchtungen wie in den USA sind auch in Deutschland nicht unangebracht. Rolf Hoffmann, Direktor der Fulbright-Kommission, stellte kürzlich in einem Vortrag die bange, aber treffende Frage, ob nicht "ein Hochschulimperialismus" entstehe, wenn einige wenige finanzstarke Institutionen weltweit ihre Lehre anbieten könnten.

Akademische Stars und Kassenschlager

Die mediale Ware ist ein merkwürdiges Ding. Sie wird äußerst arbeitsteilig und kapitalintensiv hergestellt. Gleichzeitig muss sie Anteile von handwerklicher und künstlerischer Arbeit enthalten. In irgendeiner Art und Weise muss ein Spielfilm originell sein, um reproduziert zu werden.

Für die Kulturindustrie ist das ein fortwährendes Ärgernis. Der Bedarf nach (und daher der Absatz von) Diesel oder Turnschuhen ist einigermaßen vorhersehbar. Im Gegensatz dazu ist das Bedürfnis, eine bestimmte mediale Ware zu konsumieren und nicht etwa irgendeine andere, schwer kalkulieren. Denn der Geschmack der Massen ändert sich in schwer vorhersehbarer Art und Weise. Vor drei Jahren rannten sie begeistert in "Herr der Ringe", aber werden sie vom zweiten Teil von "Der Hobbit" gelangweilt sein?

Das Original, die "Blaupause" kann nur so weit standardisiert werden, wie es das Publikum hinzunehmen bereit ist. Das Publikum ist und bleibt die große Unbekannte in den Kalkulationen der Kulturindustrie; das wirkt den Monopolisierungstendenzen entgegen. Die Herstellungskosten für einen abendfüllenden Spielfilm sind oft enorm hoch, selbst wenn es sich nicht gerade um "Der Hobbit" handelt. Es wäre reines Glücksspiel geblieben, in diese Branche zu investieren, hätte die Kulturindustrie nicht wirksame Strategien entwickelt, um ihr Risiko zu minimieren. Zwar kommen in der Kinofilm-Branche immer noch viele "Flops" auf wenige "Kassenschlager", aber die erfolgreichen Produktionen sind so profitabel, dass sie die Verluste durch die erfolglosen mehr als ausgleichen.

Aber wie kann die Filmindustrie ihr Risiko verringern, wenn doch der Publikumsgeschmack schwankt? Sie tut es durch Marktforschung, Werbung, das schamlose Kopieren erfolgreicher Formate - und durch einen bewusst betriebenen Starkult. Darsteller wie Brad Pitt, Johnny Depp oder Angelina Jolie erhalten für eine Hollywood-Produktion gerne mal über zehn Millionen Euro. Klingt übertrieben, aber unter Umständen lohnt sich das: Die Mitwirkung von "Publikumsmagneten" garantiert sozusagen eine gewisse Zuschauerzahl. Die wirtschaftliche Basis des Starkults ist der Zwang der Kulturindustrie, ihre Verluste zu minimieren. Zugespitzt gesagt: Die angeblich einzigartige Hollywood-Prominenz ist die Fassade der arbeitsteiligen Produktion der Filmindustrie für möglichst breite Massen und den Weltmarkt.

Eben dieses Muster wiederholt sich nun auf dem Internet-Marktplatz der akademischen Angebote. Dass die Kinderbuchautorin Cornelia Funke in einem MOOC mit dem Titel "The Future of Storytelling" auftritt, zeigt, wohin die Reise gehen wird. Fast jeder Artikel zum Thema MOOC nutzt den amerikanischen Philosophen Michael Sandel als Beispiel. Hunderttausende schauen sich an, wie er in seinem MOOC "Gerechtigkeit" Moralphilosophie und Gerechtigkeitstheorien erklärt.

Damit aber verschieben sich die Kriterien, was akademische Autorität ausmacht. Sandel steht für eine bestimmte Tendenz in der Moralphilosophie und ist in seinem Fachgebiet keineswegs unumstritten. Seine neugewonnene Prominenz beruht nicht auf der Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen durch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie beruht darauf, dass Sandel bei Studierenden gut ankommt, weil er anschaulich und unterhaltsam vorträgt. Wird so die akademische Lehre von morgen aussehen?

Im Frühjahr wandte sich die Philosophie-Fakultät der Universität von San José in einem offenen Brief an Michael Sandel. Darin begründen die Mitarbeiter, warum sie nicht den von Sandel entwickelten Lehrgang unterrichten wollen. In der Praxis dienten MOOCs dazu, "Professoren einzusparen, Fakultäten abzubauen und den Studierenden öffentlicher Universitäten eine minderwertige Bildung anzubieten".

Die Vorstellung, dass in diversen Philosophie-Fakultäten im ganzen Land genau ein Kurs über soziale Gerechtigkeit unterrichtet wird, ist wahrhaft erschreckend.

Und was bedeutet all das für die Studierenden?

Sofern MOOCs mediale Waren sind, ist ihre Reproduktion tendenziell umsonst. Ein mächtiger Skaleneffekt drängt die Medienindustrie dazu, auf das möglichst größte Käuferschichten zu setzen. Solange die Nutzer sich aussuchen können, welche Angebote sie in ihrer Freizeit nutzen, ist das nicht weiter schlimm. Nur - dabei wird es nicht bleiben.

Weltweit angebotene Internetlehre wird die akademische Praxis zunehmend durchdringen - nicht etwa, weil sie inhaltlich überlegen wäre, sondern weil sie ökonomisch effizienter ist. Durch den Skaleneffekt der Netztechnik ist weniger akademische Arbeitszeit nötig, um eine gegebene Zahl von Studierenden zu unterrichten.

Die neue Internetlehre kommt als Rationalisierungstechnik. Theoretisch wäre ein Dozent oder eine Dozentin ausreichend, um die Studienanfänger der Welt mit "Unternehmensethik" oder "Künstliche Intelligenz" vertraut zu machen. Rationalisierung gehört zum kapitalistischen Fortschritt wie die Geburt zum Tod oder, weniger dramatisch gesagt, wie abends reichlich Schnaps und morgens Kater: Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Rationalisierung ist destruktiv und konstruktiv; sie zerstört Altes und lässt Neues entstehen. Mit weniger Arbeitszeit wird ein Bedarf befriedigt, aber die Technik verändert diesen Bedarf. So werden die MOOCs unsere bisherigen Vorstellung grundlegend über den Haufen werfen, was "akademische Bildung" eigentlich bedeutet.

Teil 3: Die Automatisierung des Seminars.