Die Große Erzählung

Von der Macht und dem Wissen der Geheimdienste

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Oft werden in der aktuellen hitzigen Debatte angebliche Ähnlichkeiten zwischen Geheimdiensten der ehemaligen sozialistischen Diktaturen und den Geheim- und Nachrichtendiensten der heutigen westlichen Demokratien behauptet. Solche Vergleiche führen zumeist in die Irre und laufen Gefahr, die tatsächliche Unterdrückung etwa durch das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR zu verharmlosen. Es gibt jedoch tatsächlich eine Parallele. Alle Geheimdienste versuchen, in einem gewissen Sinne gerade nicht geheim zu agieren, sondern - quasi als "offenes Geheimnis" - eine Vorstellung von ihrem Wirken in der Öffentlichkeit zu etablieren, die den eigentlichen Effekt ihrer Tätigkeit unterstützt. Aus dieser Vorstellung, die sich wie eine Große Erzählung unter den Betroffenen verbreitet und von ihnen weiter getragen wird, bildet sich ein selbstverständlicher Konsens darüber heraus, was dieser Geheimdienst kann und über welche dämonischen Fähigkeiten und geradezu unbezwingbaren Kräfte er verfügt.

Ein solcher Konsens, wenn er nur in der Bevölkerung verbreitet ist, ist hocheffektiv. Denn die Funktion eines Geheimdienstes ist es ja nicht so sehr, diejenigen zu verfolgen und festzusetzen, die sich gegen das Staatsziel vergehen, ein Geheimdienst ist dann besonders wirkungsvoll, wenn niemand es wagt, überhaupt gegen den Staat tätig zu werden, weil ein jeder überzeugt ist, es mit einem übermächtigen Apparat zu tun zu haben, bei dem jeglicher Widerstand zwecklos ist. Herrscht eine solche Überzeugung, dann bleiben nur noch ein paar Helden und Märtyrer übrig, mit dem die Polizei dann schnell fertig wird, während die Mehrzahl der Widersacher murrend zu Hause bleibt.

Die Große Erzählung der Stasi war es, dass sie überall präsent ist, dass immer, wenn mehr als ein Dutzend Leute zusammenkamen, einer von der Stasi dabei war, der alles beobachtete, aufzeichnete und berichtete. Wer es war, wusste man nicht, man war sicher, dass es fast jeder sein konnte. Ich erinnere mich, dass ich 1980 als Jugendlicher auf einer Reise zu den Olympischen Spielen in Moskau zum ersten Mal dieser Überzeugung begegnet bin. Irgendwer sagte in einer kleinen Gruppe, dass dieser junge nette Mann da drüben wohl derjenige sei, und mein verständnisloses Nachfragen wurde mit einem mitleidigen Lächeln quittiert.

Herrscht einmal eine solche Stimmung, dann kann sich der Geheimdienst eine Menge Personal und Kosten sparen, es kommt gar nicht mehr darauf an, überall präsent zu sein, denn das gewünschte Verhalten wird auch ohne tatsächliche Gegenwart des Überwachungsapparats erreicht.

Bemerkenswert ist, dass die Große Erzählung über die Überwachungsapparate der Geheimdienste gerade von den Gegnern der geheimen Überwacher verbreitet, ausgeschmückt und weitererzählt wird. Gerade die Warnungen vor den dämonischen und allgegenwärtigen Kräften ist sind es, die diesen eine so selbstverständliche Plausibilität geben. So ist es auch heute. Die Große Erzählung über die Geheimdienste der USA, Großbritanniens und der Bundesrepublik ist es, dass sie in der Lage wären, durch Sammlung gigantischer Datenmengen und mit Hilfe mathematischer Auswerte-Algorithmen das Verhalten der Bürger vorherzusagen, wer zum Terroristen und wer zum Kriminellen wird und wer ein braver Bürger bleibt. Die Bösewichter, so erzählt diese Geschichte, können dann rechtzeitig, bevor sie Schaden anrichten, herausgesammelt und unschädlich gemacht werden.

Manche Mahner empfehlen uns, möglichst keine Spuren im Datennetz zu hinterlassen, sodass wir gar nicht erst in das Raster der Fahndungs-Computer geraten. Aber ohnmächtig gestehen wir uns ein, dass wir aufs Smartphone, E-Mail und Internet ja kaum verzichten können. Da bleibt uns nur, schön artig zu sein, uns für Handlungen von Terroristen, Bestandteile von Sprengstoffen und Giftgasen sowie die Standorte von Ausbildungscamps in Pakistan gar nicht erst zu interessieren, uns keineswegs ein eigenes Bild von Geschehnissen und Personen verschaffen zu wollen, damit wir ja nicht auffällig werden.

Wenn man genauer nachdenkt, dann kommt man bald darauf, dass die unglaublichen Fähigkeiten der Big-Data-Computer nur ein Gruselmärchen sind, wie die, mit denen schon vor Generationen den Kindern Angst vor Monstern und Gespenstern gemacht wurden, damit sie ja schön artig sind.

Was Algorithmen und Datensammlungen nicht wissen können

Vieles spricht dagegen. Halten wir uns zunächst vor Augen, dass es nicht darum geht, das Offensichtliche vorherzusagen, sondern das Überraschende. Dass jemand, der im Internet Anleitungen zum Bombenbau sucht, immer wieder terroristische Webseiten besucht, E-Mail-Verkehr mit Top-Terroristen hat und regelmäßig in Länder mit Terror-Ausbildungs-Camps reist, vielleicht irgendwann selbst einen Terrorakt plant und durchführt, ist nicht besonders überraschend. Aber selbst in diesen Fällen kann man nicht sicher sein.

Einerseits kennt niemand die Gründe, die der Betreffende für seine Handlungen hat. Vielleicht will er einen Roman schreiben, der im Terroristen-Umfeld spielt, vielleicht will er Methoden entwickeln, wie man Terroristen bekämpfen kann, vielleicht ist er einfach neugierig und hat viel Geld und Zeit. Big-Data- und Algorithmus-Experten werden behaupten, dass sie all das anhand weiterer Daten herausfiltern können, aber mit jeder weiteren Information wächst auch die Vielfalt der möglichen Gründe, die jemand für seine Handlungen hat. Wenn man mitbedenkt, dass es gerade im Internet auch einfach möglich ist, nicht nur Spuren zu hinterlassen, sondern auch, mit wenigen Klicks falsche Fährten zu legen, wird schnell klar, dass es nicht schwer ist, wahre Absichten zu verschleiern.

Andererseits weiß auch jeder, dass es ein weiter Weg ist von Interessen, Wünschen oder heimlichen Absichten zu tatsächlichen Handlungen. Selbst wenn meine Online-Aktivitäten auf meine Sehnsüchte oder Sympathien für bestimmte Aktivitäten schließen lassen, egal, ob es um schicke Autos, extreme Sportarten oder verwerfliche politische Einstellungen geht - ob ich selbst wirklich aktiv werde, ist eine ganz andere Frage. Vielleicht bin ich zu träge oder zu feige, vielleicht habe ich doch tief in mir Ängste oder Gewissensbisse, vielleicht kommt aber auch ein Mensch, den ich sehr mag, plötzlich vorbei und überredet mich, etwas ganz anderes zu tun.

All das können Algorithmen und Datensammlungen nicht wissen. Sie können mir nicht in den Kopf sehen und nicht - um es romantisch zu formulieren - ins Herz. Nicht nur die Gedanken sind frei, vor allem sind es auch die Handlungen.

Im Fahrwasser der Großen Erzählung von den Big-Data-Fähigkeiten schwimmen heute viele, die mit dem Glauben an die übermächtigen Fähigkeiten der datensammelnden Großrechner Geld verdienen wollen. Schon behaupten die ersten Unternehmensberater, durch E-Mail-Analysen herausfinden zu können, welche Mitarbeiter loyal sind, und welche bald betrügen oder kündigen. Und die Werbeindustrie redet uns ein, durch Datensammlung und -analyse bald besser zu wissen, was wir uns gern kaufen würden, als wir selbst es nur ahnen.

Auch hier ist klar: Die Sache funktioniert, sobald wir daran glauben. Es ist wieder einmal Zeit, den eigenen Verstand zu benutzen und die Großen Erzählungen, die uns in Gläubigkeit halten wollen, lächerlich zu machen. Dass man sich dann von ihnen befreien kann - auch das haben wir am Ende der DDR gelernt.