Koalitionsvertrag fast unleserlich

Die häufigsten Wörter im Koalitionsvertrag. Bild: Universität Hohenheim

Die Verständlichkeit des Mammut-Werks lässt sehr zu wünschen übrig, so eine Textanalyse von Kommunikationswissenschaftlern der Universität von Hohenheim, und das ist möglicherweise gewollt

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Nach zähen Verhandlungen unter hohem Druck werden Koalitionsverträge geschmiedet. Sie sollen eine Plattform für eine gemeinsame Regierung darstellen, zeigen, was die einzelnen Parteien durchgesetzt haben, und gleichzeitig möglichst im Vagen bleiben, um nicht bei allzu vielen falschen Versprechungen ertappt zu werden. Das sind schwierige Aufgaben, die den Schreibstil beeinflussen, weil zudem viele Autoren mitwirken und Korrekturen anfügen.

Prof. Dr. Frank Brettschneider vom Institut für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim hat sich mit seinem Team und dem Institut H&H Communication Lab nun ebenso schnell den zwischen Union und SPD ausgehandelten Koalitionsvertrag vorgeknöpft, mit einem Textanalyseprogramm untersucht und auf dessen "formale Verständlichkeit" geprüft. Um die Bewertung des Inhalts ist es den Wissenschaftlern ausdrücklich nicht gegangen.

Verständlichkeit für eine breite Öffentlichkeit ist dieses Mal besonders wichtig, weil nun alle SPD-Parteimitglieder den Koalitionsvertrag zur Kenntnis genommen und verstanden haben sollten, um ihn billigen oder abzulehnen zu können. Allerdings würde es auch prinzipiell nie schaden, wenn die solche Verträge oder auch Gesetzesvorlagen von demokratischen Institutionen, die das Volk repräsentieren sollen, auf verständliche Weise dargestellt und verfasst werden würden. Was natürlich keineswegs der Fall ist.

Brettschneider stellt fest, dass der Vertrag "von der Verständlichkeit her noch anspruchsvoller als eine politikwissenschaftliche Doktorarbeit" ist. Er verweist dabei auf Bandwurmsätze mit bis zu 86 Wörtern, Wortungetüme wie "Schnellreaktionsmechanismus", zahlreiche Fremdwörter oder Fachbegriffe wie "Transphobie" oder "Landesbasisfallwert" hin, die nur wenige kennen und die nicht erklärt werden.

Die Wissenschaftler haben mit der "Verständlichkeitssoftware TextLab" einen so genannten "Hohenheimer Verständlichkeitsindex" gebildet, der je nach Häufigkeit von sperrigen Sätzen und Wörtern angeben soll, wie verständlich ein Text ist. Er reicht von 0 für völlig unverständlich bis hin zu 20 für sehr verständlich. Ermittelt werden u.a. die Satzlänge, der Anteil der Sätze über 20 Wörter, der Anteil der Schachtelsätze, die durchschnittliche Wortlänge oder der Anteil der Wörter mit mehr als sechs Zeichen. Klar ist, dass man so schnell unverständlich wird.

Da der Koalitionsvertrag auf der Skala nur einen Wert von 3,48 erreicht, ist er unverständlicher als politikwissenschaftliche Doktorarbeiten, die durchschnittlich einen Wert von 4,7 erreichen. Die Wahlprogramme der einzelnen Parteien waren dagegen mit 7,7 schon Leuchttürme der Klarheit, die Union hatte danach das verständlichste Programm mit einem Wert von 9,9 vorgelegt. Aber Wahlprogramme einer Partei sind eben auch einfacher zu stricken, es gibt mehr Zeit zum Formulieren und vor allem sind sie noch stärker als Koalitionsverträge eine Aneinanderreihung von Versprechungen.

Formal noch am verständlichsten ist die Präambel (7,56). Formal am unverständlichsten ist das Kapitel über Europa (1,96). Um dieses und die meisten anderen Kapitel zu verstehen, ist die Sprachkompetenz auf dem Niveau von Akademikern erforderlich.

Die Präambel ist zusammen mit dem Abschlusskapitel über die Arbeitsweise der Koalition nach dem Index am verständlichsten, hier finden sich am wenigsten "Verstöße" gegen die Hohenheimer Verständlichkeitsregeln. Der längste Satz kommt übrigens aus dem Kapitel über "Solide Finanzen", was schon zu denken geben könnte:

Sobald der Aufbau eines europäischen Abwicklungsmechanismus beschlossen ist, kann, nachdem der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende Entscheidung getroffen und die EZB die Aufsicht operativ übernommen hat, als Zwischenlösung ein neu-es Instrument zur direkten Bankenrekapitalisierung auf Basis der bestehenden ESM-Regelungen mit einem maximalen Volumen von 60 Mrd. Euro und insbesondere mit der entsprechenden Konditionalität und als letztes Instrument einer Haftungskaskade in Frage kommen, wobei sichergestellt ist, dass vorher alle anderen vorrangigen Mittel ausgeschöpft worden sind und ein indirektes ESM-Bankenprogramm mit Blick auf die Schuldentragfähigkeit des Staates ausgeschlossen ist.

Als Verständlichkeitshürden gelten etwa Wörter wie Koordinierungskompetenz, Blutalkoholkonzentration, Quellen-Telekommunikationsüberwachung, Telekommunikationsverbindungsdaten, Cybersicherheitsstrategie oder Open-Data-Portal.

Ob allerdings der Verzicht auf zusammengesetzte und Fachwörter, längere Sätze und abstrakte Wörter zusammen mit der Forderung, dass Sätze "möglichst nur jeweils eine Information vermitteln" sollten, um die "Wenig-Leser" nicht zu überfordern, das Gelbe vom Ei ist, erscheint doch fraglich (das war jetzt wohl schon gegen 0). Ganz lässt sich wohl der Inhalt von Informationen ohne Verluste nicht vereinfachen. Selbst die Bild erzielt in den politischen Beiträgen "nur" einen Wert von 16,8. Ist eine Sprache, die noch einfacher als die der Bild ist, wirklich das Nonplusultra der Verständlichkeit?

Ob die Worthäufigkeit allein schon interessant ist, wird nicht näher erläuert. Ganz vorne liegt aus naheliegenden Gründen "Deutschland", dann kommen "stärken", "Menschen" und "müssen", "insbesondere" wird auch geschätzt. Milde sagt Brettschneider, die "gemessene formale Verständlichkeit" sei "natürlich nicht das einzige und auch nicht das wichtigste Kriterium, von dem die Güte eines Koalitionsvertrags abhängt. Wichtiger noch ist der Inhalt." Der letzte Satz dürfte wohl ganz oben im Verständlichkeitsindex angesiedelt sein, der Satz zuvor wäre schon deutlich kritischer zu sehen - zumindest wenn "Wenig-Leser" oder "Leseferne", wie das auch schon formal kurz gesagt wird, als Ausgangspunkt dienen.