Die Automatisierung des Seminars

Der Unterricht im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit - Teil 3

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Immer mehr Menschen nutzen "Massive Open Online Courses" (MOOCs). Interessante Bildungsangebote umsonst, das ist eine feine Sache! Aber dabei wird es nicht bleiben. Die technisch avancierte Internetlehre wird die Hochschulbildung insgesamt verändern. Durch Automatisierung, Offshoring und Crowdsourcing ermöglichen MOOCs eine umfassende Rationalisierung, die unsere Vorstellung davon, was akademische Bildung eigentlich bedeutet, gründlich umkrempeln wird.

"Nein, probier's noch mal: I can see the dog." In einigen südkoreanischen Grundschulen wird seit zwei Jahren ein Roboter eingesetzt, der Schülern die korrekte englische Aussprache nahebringen soll. Das Gerät namens Engkey hat Rollen und erinnert entfernt an ein Huhn; keinesfalls soll es die Kinder ängstigen. Auf dem eiförmigen Torso ist ein Bildschirm angebracht, auf dem merkwürdigerweise das Gesicht einer nicht-asiatischen Frau zu sehen ist. Engkey - ein Kofferwort für English Disc Jockey - übt mit den Grundschülern im Unterricht. In Südkorea wird auf gutes Englisch großen Wert gelegt, deshalb wurden bisher häufig Muttersprachler im Schulunterricht eingesetzt. Werden künftig Roboter ihre Arbeit übernehmen?

Entwickelt wurde der Roboter vom südkoreanischen Institut für Wissenschaft und Technik. Als Engkey vor zwei Jahren der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, verwies Direktor Kim Mun-Sang darauf, dass die Anschaffung des Roboter zwar knapp 9.000 Euro koste, ein menschlicher Hilfslehrer im Klassenzimmer aber im Jahr mindestens 20.000 Euro verdienen würde.

Aber die Hilfslehrer werden gar nicht abgeschafft. In dem auf den ersten Blick autonomen Roboter steckt, wieder einmal, menschliche Arbeitskraft. Die Hilfslehrer leben auf den Philippinen, wo ein großer Teil der Bevölkerung Amerikanisch als Muttersprache spricht. Engkey ist mit Kamera, Mikrophon und Lautsprecher ausgestattet. Von ihrer Heimat aus steuern die Lehrkräfte das Gerät und kommunizieren mit den Grundschülern. So sparen sie sich die Migration - und die südkoreanischen Schulen Personalkosten.

Die Geschichte von dem niedlichen südkoreanischen Roboter ist weit mehr als eine Anekdote. Ob Engkey irgendwann tatsächlich in der südkoreanischen Grundschulbildung eingesetzt und die englischsprachigen Hilfslehrer ersetzen wird, ist nicht ausgemacht. Aber wie eine Parabel macht die Geschichte deutlich, wie einerseits die "Industrialisierung der Bildung" vom Druck zur Rationalisierung angetrieben wird, und wie andererseits die angestrebte Automatisierung des Unterrichts an eine Grenze stößt. Denn Engkey hat zwar laut seinen Entwicklern gewisse automatisierte Funktionen: Das Gerät ahmt die Gestik des Lehrers im Klassenraum nach und analysiert die Sprachaufnahmen der Kinder. Allerdings erreicht der Roboter offenbar nicht das nötige Niveau, um wirklich autonom mit den Lernenden zu interagieren.

Die Herausforderung: Das Seminar automatisieren

Die Dynamik der Rationalisierung prägt auch die Entwicklung bei den MOOCs. Im virtuellen Hörsaal versammeln sich oft zehntausende, in einigen Fällen sogar hunderttausende Menschen. Wie viele es wirklich sind, spielt letztlich keine Rolle, denn ein Dozent kann beliebig viele Zuhörer unterrichten. Der Skaleneffekt durch die Informationstechnik (siehe Teil 1: Ein Weltmarkt für Internet-Bildung) bringt scheinbar ein unbegrenztes Rationalisierungspotential mit sich. Das neue globale Auditorium ist rund um die Uhr geöffnet, nicht einmal ein Hausmeister scheint da nötig - oder doch?

Der "Blaupausen-Effekt" ist beschränkt, weil ein Fernstudium über das Netz nicht nur Vorträge, sondern auch Interaktion mit den Lernenden liefern muss. Studieren besteht aus dem Hören von Vorlesungen, mithin aus dem vielgeschmähten Frontalunterricht, andererseits aber aus der Diskussion im Seminar. Nötig wäre eine Technik, die nicht nur Vorträge, sondern den Unterricht automatisiert. Sie müsste Fragen beantworten, Hausaufgaben benoten, Sachverhalte erklären und Literaturhinweise geben. Sie müsste die Diskussionen der Studierenden untereinander in die richtigen Bahnen lenken.

Die neuen Internetlehrgänge leiden unter den alten Problemen des E-Learning. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer bricht vor der Prüfung ab; Abschlussquoten über zehn Prozent werden bereits als Erfolg gefeiert. Um einen Kurs durchzuhalten, ist viel Selbstdisziplin vonnöten. Diskussionen in kaum oder nur schlecht betreuten Foren verwirren oft mehr, als sie klären, wenn Blinde die Blinden führen sollen. Schriftlich zu kommunizieren, ist außerdem wenig effizient und führt oft zu Missverständnissen. Akademische Hilfskräfte könnten die Debatten moderieren und Fragen übers Netz beantworten - aber das würde keinen Rationalisierungseffekt bringen. Was tun?

In erster Linie setzen die MOOC-Macher auf Crowdsourcing, auf Peer Review. Studierende stellen in den Diskussionsforen Fragen zum Stoff und helfen einander. Um eine gewisse Qualität sicherzustellen, werden ihre Antworten wiederum von den Nutzern bewertet. Besonders hilfreiche Erklärungen können besonders hervorgehoben werden. Das Rating von Personen oder Antworten gibt den Studierenden Hinweise darauf, welche Informationen vertrauenswürdig sind - wahrscheinlich. Bei Coursera beispielsweise ist es üblich, dass Studierende ihre Hausaufgaben gegenseitig korrigieren; solche Bewertungen gehen auch in die Abschlussnote ein. Viele MOOC-Anbieter fördern außerdem, dass Teilnehmer, die am selben Ort wohnen, Lerngruppen bilden und sich auch außerhalb vom Netz treffen.

Internet-Enthusiasten feierten lange Zeit die herrschaftsfreie, gleichberechtigte Zusammenarbeit, die im Netz stattfindet. Viele Unternehmen bedienen in ihrer Außendarstellung diese Romantik, während sie gleichzeitig bewusst und gezielt darauf setzen, sich Arbeitsleitungen anzueignen, für die sie nichts bezahlen. Die Geschäftsstrategie heißt "Prosumption", Konsum und Produktion in einem. Die Aufgabe der Planer und Manager besteht darin, die Arbeit der Konsumenten produktiv zu machen. MOOCs sind ein Beispiel dafür. Ohne die Mitarbeit der Lernern entstünde überhaupt kein vermarktbares Produkt. Die Masse unterrichtet und benotet sich selbst.

Die neue Rationalisierungsfront: natürliche Sprache, unstrukturierte Wissensgebiete

Crowdsourcing reicht noch nicht aus, um die gewünschten Einsparungen zu erzielen. Ziel ist ein vergleichbarer Skaleneffekt in der Interaktion zwischen Dozenten und Studenten. Hier geht es nicht mehr darum, technisch eine Vorlesung zu vervielfältigen, sondern darum, das Seminar zu automatisieren. Deshalb werden die Übungen der Studierenden möglichst automatisiert beaufsichtigt und ihre Fehler automatisch berichtigt. Das aber ist keine triviale Aufgabe, denn Bildung funktioniert immer nur dialogisch: Der Schüler muss verstehen, wie der Lehrer denkt - aber auch der Lehrer muss verstehen, wie der Schüler denkt, um ihm zu erklären, wie er besser denken kann. Die Lehrmaschinen müssten daher verstehen, was ihre Nutzer zu ihnen sagen, um ihnen etwas zu erklären. Können das Maschinen? Die Automatisierung des Unterrichts muss daher beim Verstehen ansetzen, bei der Interpretation von schriftlichen oder gesprochenen "natürlichsprachigen Eingaben". Die technische Grundlage dieser Versuche sind deshalb Maschinenlernen und Computerlinguistik.

Automatisierung im Bildungssektor ist kein Hirngespinst. Schon lange existieren sogenannte Intelligente Tutorensysteme (ITS) (im englischen Sprachraum auch bekannt als Intelligent Learning Systems oder Intelligent Tutoring System (ITS). Computer-supported Collaborative Systems (CSCL) werden mancherorts für "Gruppenlernen" eingesetzt.

Diese Art Lernsoftware unterscheidet sich vom berüchtigten Gehirn-Jogging oder Vokabel-Trainern dadurch, dass die Programme den Kenntnisstand ihrer Nutzer einschätzen und ihre Aussagen bewerten. "Intelligent" sind die Systeme insofern, als dass sie sich an die Lernenden anpassen. Sie sind adaptiv, sie wählen Fragen und Hilfestellungen entsprechend der individuellen Fähigkeiten aus. Sie bilden Modelle über den Kenntnisstand ihrer Nutzer, um beispielsweise den Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe anzupassen oder Hilfestellungen nur dort zu geben, wo es nötig ist.

Solche Computersysteme gibt es nicht von der Stange; sie müssen für bestimmte Inhalte eingerichtet und auf die jeweiligen Zielgruppen abgestimmt sein. Dieser Aufwand lohnt sich aber nur dann, wenn die Zahl der Lernenden groß genug ist. Weil sich MOOCs nun immer weiter verbreiten, nimmt die Entwicklung der adaptiven Lernunterstützung Fahrt auf, denn für Internet- und IT-Unternehmen wird es zunehmend attraktiv, in die Entwicklung zu investieren.

Als pädagogisches Mittel sind adaptive Tutorensysteme allerdings nicht immer sinnvoll. Sie müssen die Inhalte, die sich die Studierende aneignen sollen - das jeweilige Wissensgebiet - klar strukturiert und vollständig enthalten. Definitionen gehören in diese "Wissensdomänen" ebenso hinein wie die Regeln, nach denen die Informationen anzuwenden sind. In formalisierten Wissenschaften wie der Mathematik oder Physik ist es wesentlich einfacher, Wissensdomänen zu entwickeln, mit denen Studierende etwas anfangen können. Entsprechend leicht fällt es dann dem Computer, eine Eingabe zu beurteilen. Die Liste der möglichen Antworten auf eine Frage wie "Wie lautet der Satz des Pythagoras?" ist deutlich kürzer als eine Liste mit Antworten auf "Nennen Sie wesentliche Ursachen des 2. Weltkriegs." Je geisteswissenschaftlicher das Thema, je unstrukturierter das Wissensgebiet, umso schwerer tun sich die Maschine damit, Eingaben der Nutzer als "falsch" oder "richtig" zu erkennen.

"Schwierig" heißt allerdings nicht "unmöglich". Anhand von Stichwortlisten können Computer mittlerweile einigermaßen treffsicher entscheiden, ob eine Antwort "zum Thema passt". Die Bemühungen zielen nun darauf, immer längere und komplexere Texte maschinell auszuwerten. So veranstaltete die Hewlett Stiftung 2012 einen Wettbewerb, um ein Programm zu entwickeln, dass Aufsätze anhand von Rechtschreibung, Grammatik und Ausdruck beurteilen kann. Solche technischen Möglichkeiten werden in Zukunft eine Schlüsselrolle spielen, weil das prompte Feedback die pädagogische Praxis der Internetkurse entscheidend prägt (siehe "Lässt sich Bildung überhaupt industrialisieren?").