Wider den Empirismus der phantastischen Vernunft

Kritik einer neuen Escience-Publikation zu Stanislaw Lem

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Das menschliche Gehirn ist ein erstaunliches Organ, "Schauplatz" von sehr unterschiedlichen Symbolisierungen. Ob poetisches Gedicht, wirtschaftlicher Geschäftsbericht, religiöse Bibel-Exegese, mathematischer Beweis oder Science Fiction-Text, alle diese symbolischen Erzeugnisse werden mit der gleichen "Hardware" hergestellt. Die Freiheit des Gehirns, mit solchen Zeichen zu operieren, ist sehr groß, da sie nicht belastet ist von den Naturgesetzen, von äußeren materiellen Substraten - abgesehen davon, dass solche auf die Rahmenbedingungen des Bewusstseins einwirken. Die symbolische Welt im Kopf hat selbst mit der Realität nichts zu tun, die Hardware schon. Wenn der Körper nicht mit Nahrung versorgt wird, stirbt er - und damit auch das Gehirn.

Stanisław Lem (1966). Bild: Wojciech Zemek. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Man schiebt im Bewusstsein "nur" Symbole hin und her, darin liegt ihre große Produktivität. Auf der anderen Seite sind sie nicht direkt sinnlich fassbar, was eine Barriere für den Alltagsverstand darstellt, der immer nach der empirischen Verankerung der Zeichen sucht und mathematische Formeln etwa für zu abstrakt hält. Man kann in der Phantasie sich alles vorstellen, ob es Sinn hat oder nicht. Aus der Binnensicht, aus der lokalen Perspektive des Gehirns, sind all diese Zeichen gleich, es gibt erstmal keinen qualitativen Unterschied zwischen religiösen oder naturwissenschaftlichen Modellen. Jedes virtuelle Modell ist so gut wie das andere, keines ist ausgezeichnet gegenüber einem anderen.

Diese Konstrukte bestehen aus Beziehungen von symbolischen Elementen, verfügen über eine Logik, wie diese Elemente geordnet werden, und pendeln dabei zwischen Vollständigkeit und Widersprüchlichkeit. Sie werden nur unterscheidbar im Kontext, je weiter man nach außen geht und die Einbettung dieser Modellannahmen beurteilt, ihre Zielgerichtetheit und ihre praktische Funktionalisierung. Aus diesen Schritten lassen sich folglich die Kriterien ableiten, wann was wie etwas bedeutet, wann etwas Spinnerei ist, irreal oder real.

Diese virtuelle Symbolik hat in der Kulturgeschichte eine ungeheure Wirksamkeit entfaltet. Wir erinnern hier sinngemäß an den berühmten Ausspruch von Marx, dass der schlechteste Baumeister der besten Biene überlegen sei, weil er einen Plan im Kopf hatte. Das gedankliche "Probehandeln" kann in ganz unterschiedlicher Form stattfinden: Die Menschen können bekannte Dinge nachmachen oder ihnen sachlich unbekannte oder welche, die außer ihrer Reichweite existieren, oder solche, die gar keine konkrete Existenz aufweisen. Die Fähigkeit, sich Geschichten von unbekannten Wesen und fernen Planeten auszudenken, hat hier ihren Ursprung - die Fähigkeit, die für die Science Fiction (SF) so bedeutsame Frage "Was wäre, wenn …" zu stellen.

Man könnte nun davon ausgehen, dass das Gehirn nur "realistisch" funktioniert, dass es sich nur mit Dingen beschäftigt, die evident sind. Das ist aber offensichtlich schon biologisch nicht der Fall. Das Gehirn baut aus Umweltreizen interne Muster, die keine direkte Korrelation zur Wirklichkeit darstellen. Es hatte dabei Millionen Jahre Zeit, den Abbildungsaufbau aus solchen Reizen zu trainieren. Wir werden auf diesen Aspekt zurückkommen.

"Die Empirie der Phantastik"

Diese lange Vorrede war angebracht, um in "Die Empirie der Phantastik", das neue Ebook von Erland Magnusson1, einzuführen. Magnusson, Jahrgang 1990, studierte Literaturwissenschaften in Uppsala und Paris und lehrt heute an der Stockholmer Universität. Er beschäftigt sich seit Jahren mit mitteleuropäischer SF und hat Monographien zu Adam Wiśniewski-Snerg und Jacek Dukaj verfasst. Wir können also festhalten, dass er ein ausgewiesener Spezialist für die polnische Phantastik ist.

In seinem neuen Buch nimmt er sich des vor rund zwanzig Jahren verstorbenen Großmeisters der polnischen SF an und hegt - wie schon in seinen vorherigen Werken - keinerlei Bedenken gegenüber diesem Genre. Mit dieser Haltung unterscheidet es sich wohltuend von anderen akademischen Elaboraten der letzten Jahre: Wir denken dabei vor allem an Hans Georg Thieles misslungene systemtheoretische Abhandlung Die Phantastik der Gesellschaft, an Francois Brels überladene dekonstruktivistische Analyse Die Allegorie des szientistischen Imaginären oder an Storm Pettibones stereotype marxistische Untersuchung Die Widerspiegelung der technokratischen Ideologie in der SF des neuen Jahrtausends.

Man könnte nun fragen, warum man sich überhaupt weiterhin mit Lem beschäftigen soll. Die SF stellt an ihre Autoren sehr hohe Ansprüche, die - wie Lem nicht aufhört zu betonen - zu selten eingelöst worden sind. Wells, Stapledon, Clarke - das sind große Namen, die zu ihrer Zeit die SF als Ideenliteratur vorangebracht haben. Gerade als SF-Autor ist man ein Spieler ums Ganze und wechselt nicht in kleiner Münze. Das hat Lem auf beeindruckende Weise geleistet. Insofern gehört er bei aller Kritik und Streitbarkeit im Einzelfall in diese Traditionslinie.

Die Vielfalt seines Werks ist innerhalb des Genres und darüber hinaus bis heute unübertroffen. Wie Andy Sawyer es 2011 in der britischen Anthologie Lemistry formulierte: "Lem is simply too large for science fiction itself."2 Magnusson wiederum gibt sich als gelehriger (und belesener) Schüler Lems zu erkennen; seine unkritische Herangehensweise ist jedoch nicht unproblematisch. Gleich in seiner Einleitung heißt es:

Lem hat einer unvermeidlichen Empirisierung in der SF Vorschub geleistet. Wenn man Lems Werk in seiner Entwicklung verfolgt, wird dem Leser schnell klar, mit welcher Systematik und Akribie der polnische Autor an seinem Projekt, ein rational belastbare Ableitungsstruktur für die phantastischen Gedankengebäude zu legen, gearbeitet hat. Während der Großteil der SF in luftigen Ideenwolken verbleibt, war es vor allem Lem, der für eine Anbindung seiner Literatur an die Wirklichkeit sorgte und damit das Referenzmodell für eine logisch-empirisch begründbare SF schuf.

(S. XII)

In diesem Stil geht es seitenlang weiter. Aber ist Magnussons Einschätzung so richtig und kommt sie dem Phänomen der SF-Literatur nahe? Wir werden uns besonders auf Lems zweibändiges Werk Phantastik und Futurologie3 beziehen, das Magnusson ausführlich referiert.

Ein Spektrum von phantastischen Objekten

Lem stellt gleich zu Beginn die Frage, was eigentlich ein phantastisches Objekt sei. Offensichtlich gibt es Gegenstände des Denkens, deren Existenz nicht nachgewiesen werden kann, die somit ausgedacht und eben dadurch phantastisch sind wie zum Beispiel Bewohner auf Alpha Centauri und die nichtsdestotrotz "denkbar" sind. Der Gottes-Glaube ist phantastisch, aber für diejenigen, die in diesem Glauben leben, existiert ein höheres Wesen, eben in nichtirdischer transzendentaler Weise. Phantastisch ist ein solches Gedankenobjekt auch in dem Sinn, dass es - zumindest in manchen Religionen - unanschaulich bleibt.

Die idealen Objekte der Mathematik stellen eine weitere Klasse imaginärer Objekte dar. Solche Denkinhalte werden auch durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung beeinflusst, indem ehemals undenkbare Ereignisse wie eine Kopfverpflanzung bei Affen zumindest vorübergehend ein neues Wesen verwirklichen und damit ansatzweise die mythische Idee der Chimäre "entphantasieren". Ebenso können vermeintlich fiktive Mythen wie beispielsweise das Goldene Vlies im nachhinein auf eine empirische Basis zurückgeführt werden (in diesem Fall auf die in Kleinasien bis heute gebräuchliche Praxis, Gold mit Schafsfellen auszuwaschen).

Eine Kopfgeburt der Phantasie wird dagegen wohl Walhalla bleiben. Auch das SF-Subgenre der Alternativweltgeschichte lebt davon, dass in diesem unmögliche, nicht stattgefunden habende, aber nicht gänzlich unwahrscheinlich gewesene Annahmen aus dem Geschichtsverlauf durchgespielt werden wie ein Sieg der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg.

Man kann also je nach Wahrscheinlichkeit eine Stufenabfolge des Existenz-Status´ phantastischer Objekte feststellen. Bei solchen Symbolkonstruktionen ist eine Hierarchie an realer Wirkungsmächtigkeit entstanden. Es sind Zeichen vorhanden, mit deren Hilfe man in den Stoff eingreifen kann, so mit dem Programmcode. Mit einem "quadratischen Kreis" kann man keine Maschine bauen, was man sich auch immer darunter vorstellen mag. Zugleich ist ein "geflügeltes Pferd" näher an der Realität dran als ein solcher Kreis, da es eines Tages möglicherweise als biotechnologisches Produkt erzeugt werden kann.

Schriftsteller nehmen die Freiheit in Anspruch, davon zu erzählen - worauf Lem hinweist -, dass niemand je das letzte verbliebene Mitglied einer sterbenden kosmischen Rasse gesehen habe, was von einem realistischen Erzählstandpunkt vollkommen unmöglich ist. Wir zitieren Lem:

Bei der Vorbereitung unserer Reise zum SF-Land sind für uns sowohl die Dinge am interessantesten, die es heute noch nicht gibt - obwohl sie irgendwann entstehen können -, als auch jene, die es nicht gibt und wahrscheinlich nie geben wird, die aber existiert "haben könnten", - wobei diese ihre Existenz nicht im geringsten Widerspruch zu den Naturgesetzen steht.

(I, 9)

Damit grenzt Lem das Feld der SF ein auf einen "Gestaltungskorridor" zwischen zwei virtuellen Vorgehensweisen, in dem die imaginär erzeugten Objekte im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer (in)direkten Existenz einen ständigen Plausibilitätstest durchlaufen. Werde beispielsweise eine Raumfahrt nach und nach realisiert, könnten die Autoren nicht mehr X-beliebiges über diese schreiben (Lem wird in seinem Aufsatz Die SF - strukturalistisch gesehen4 von 1970 diese Aussage relativieren, indem er schreibt, dass - obwohl die skizzierten technischen Parameter unmöglich, phantastisch bleiben - ein Autor sehr wohl mittels solcher Elemente ökonomische, politische, psychologische Probleme der Raumfahrt realistisch darstellen könne). Wobei sich die Frage ergibt, ob die Visionen, die über die Raumfahrt innerhalb der SF historisch gebildet worden sind, hätten überhaupt empirisch unterfüttert werden können.

Bestimmte Entdeckungen, die zur Präzisierung von verwirklichten Technologien in verschiedener Hinsicht beigetragen haben, sind nicht vorwegzunehmen. Allgemein können wir festhalten, dass man offensichtlich von realen Problemen zu phantastischen Hypothesen kommen und mittels phantastischer Hypothesen reale Probleme diskutieren kann.

Empirisch fundierte SF vs. "Pseudo-SF"

Magnusson hingegen pocht auf die empirische Richtigkeit der Entwürfe, die alle SF-Autoren abzuliefern hätten (vergl. Lem I, 400). Unter Hinweis auf seinen Gewährsmann formuliert er, dass ein Autor wissenschaftlicher Phantastik wissen müsse, was Wissenschaft sei. SF sei ein "Vorposten" der Wissenschaft; sie realisiere ihre Träume mittels "Wissenschaftsrequisiten" (I, 417). Der Leser sollte bei der Lektüre wissenschaftlicher Phantastik nur Fragen empirischer Ordnung stellen: wie sei es möglich, das woanders normal ist, was unter irdischen Verhältnissen anormal bleibt? (I, 272) Das Argument mit der empirischen Fundierung der SF-Bilder erfolgt bei Lem in immer neuen Varianten und gipfelt in folgender Aussage:

Wenn die durch ein Werk gegenständlich festgelegte Welt eine empirische Variante der uns bekannten Realität darstellt, sie also ein Bereich ist, in dem real geltende Gesetze andere Ergebnisse und Erscheinungen zur Folge haben als die, die wir kennen, also, wenn es sich immer noch um die gleiche Welt und um den gleichen Kosmos handelt - nur in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, - dann sind wir aufgrund dieser Voraussetzungen berechtigt, die kreativen Konstruktionen gerade mit einem empirischen Maß zu messen.

(I, 399)

Die in der SF beschriebenen Erscheinungen seien immer von dieser Welt, nur eben anders zusammengesetzt oder verortet - im Unterschied zur Horror- oder zur Fantasy-Literatur, die auf übernatürliche Ereignisse setzten und damit "kontraempirisch" seien (I, 120). Ein SF-Autor täusche vor, er schreibe realistische Literatur, nur eben an einem anderen Ort im Raum-Zeit-Kontinuum. Die Gestaltungskraft des Autors treffe dabei auf das begrenztere Wissen des Lesers, der ein Werk zu entschlüsseln suche. Die SF sei daran interessiert, dass durch den Leser "die Entdeckung des gemeinsamen Nenners dieser ungewöhnlichen Objekte und Prozesse mit dem, was bekannt und gewöhnlich ist", möglich bleibt. Immerhin schränkt Lem ein:

Es ist gut, wenn eine phantastische Konstruktion aus dem Humus realer Daten erwächst. Und selbst wenn man manchmal solchen Daten Gewalt antut, sollte man sie zumindest kennen, damit man auch weiß, was man tut.

(II, 337)

Das große Feindbild von Lem (und Magnusson) ist die "Pseudo-SF", die gleichsam als "leeres Spiel" ohne empirisch-kulturelle Bedeutung, ohne realen Bezug, ohne Realisierungspotenzial eingerichtet sei und im besten Fall eine "intellektuelle Akrobatik" hervorbringe.

Lem kommt dennoch zu dem Schluss, dass das Kontraempirische mit der Empirie konvergieren könne (I, 258). Er will das "Kriterium der Sinnhaftigkeit" gar nicht zum alleinigen Maßstab machen; die Rhetorik dürfe aber nicht die Argumentation "ersetzen" (II, 336). Dahinter verbirgt sich noch eine größere Schwierigkeit, nämlich, dass die Phantastik nach der Folie der Wissenschaft gestaltet und damit eingeschränkt wird in ihren Darstellungsqualitäten.

Die Kunst aber kann sich nicht mit jenem Grundstock von Verboten begnügen, den die Empirie respektiert, weil sie sie als Naturgesetze nicht verletzen darf. Ein solches Vorgehen würde die Kunst auf ihren Nullpunkt reduzieren; die Beschränkung auf kognitive Ziele, typisch für die Empirie, müsste die Kunst immer mehr an die Empirie angleichen, bis sie schließlich und endlich zu einem Plagiat, einem Schatten der Wissenschaft herabsinken würde.

(II, 628)

Diesen Hinweis übergeht Magnusson geflissentlich. Wenn sich zudem der Richtwert des Empirischen als Maß aller Dinge in der SF durchsetzen sollte, besteht für Lem die Gefahr, dass es - gerade wegen der wissenschaftlichen Korrektheit - zu einer Gleichförmigkeit der schriftstellerischen Arbeiten kommen könnte und damit zu einem "Originalitätsverfall" (I, 411). Zähneknirschend muss Lem in seinem Aufsatz Die SF - strukturalistisch gesehen zudem eingestehen, dass sachliche Fehler im Werk von Lesern sogar positiv beurteilt werden können, sie also empirische Richtigkeit gar nicht als das Wichtigste akzeptieren.

Lems Kritik an namhaften SF-Autoren

Doch machen wir nun die Probe aufs Exempel und schauen uns an, wie Lem konkret Autoren der SF bewertet hat. Harsche Kritik äußert er beispielsweise an J.G. Ballard. Dieser betreibe Betrug am "programmatischen Realismus der SF" (I, 331), sei als Autor "orientierungslos" (II, 382) und liefere keine intellektuell wertvollen Muster (I, 454). Als Beleg verweist Lem auf dessen Roman Karneval der Alligatoren. Er analysiert einen Konflikt zwischen einer empirisch-rationalen und einer mystisch-eschatologischen Einstellung im Roman (I, 282).

Beim Helden der Geschichte sei die Hingabe an die Zerstörung, die Regression zu beobachten, während andere nach Lösungen für die Katastrophe suchten. Man kann diesen Konflikt aber auch mit umgekehrter Akzentuierung darstellen: Er verläuft eher zwischen einer oberflächlich-leeren Betriebsamkeit vieler angesichts einer alles transformierenden "Katastrophe" und dem Sich-Einlassen weniger auf die neuen unbekannten Möglichkeiten einer anderen Welt. Zur Veranschaulichung dieser Interpretation soll ein Zitat aus dem Roman dienen:

Diese immer stärker werdende Isolierung und Ichbezogenheit, die auch bei den anderen (...) festzustellen war, ließ Keran an das biologische Zurückziehen aller Säugetiere denken, die vor einer großen Metamorphose standen. Manchmal überlegte er, welche Phase er wohl gerade durchmachte, er war überzeugt, dass sein Zurückziehen eine sorgfältige Vorbereitung für eine ganz neue Umwelt und eine neue Logik war, wo alte Denkkategorien nur ein Hindernis sein würden.

Die Metamorphose ist nicht wissenschaftlich fundiert dargestellt, zugegeben, aber es entsteht bei Ballard nichtsdestotrotz ein SF-Effekt, indem die Konfrontation mit einer Umwelttransformation als individuelle und gesellschaftliche Herausforderung geschildert wird, die psychische Veränderungen notwendig macht und zumindest andeutet, dass das Denken sich ändern muss, um die Entwicklung überhaupt verstehen zu können.

Ballard skizziert keine Kausalitäten, die zu dieser Transformation führen - anders als zum Beispiel Greg Bear in Blutmusik oder Greg Egan in Diaspora -, gestaltet jedoch überzeugend die Palette an psychischen Reaktionen, die von Ignoranz bis zur Annahme reicht. Insofern ist Ballards Roman eher eine Kulturkritik als ein wissenschaftlich akkurates Szenario, was seinen literarischen und seinen SF-Wert aber keineswegs schmälert.

Stanisław Lem (2005). Bild: Mariusz Kubik. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Dem Roman Die letzte Generation von Arthur C. Clarke wiederum wirft Lem vor, dass er als "Märchen" enden würde; man könne nicht realistisch anfangen und später dann den Leser mit gottgleichen Wesen abfertigen. Wenn ihre empirischen Mittel eben nicht ausreichen würden, beriefen sich viele Autoren auf "große Zeichen" wie Supercomputer und Ähnliches, die Probleme der Handlung gleichsam von oben lösen sollen. Das Buch handelt von einer Alien-Invasion auf der Erde, die im Auftrag eines sich bedeckt haltenden kosmischen "Übergeistes" die geistige Mutation der jüngeren Kinder einleitet, denen die Entkörperlichung und die Aufnahme in eben diese Geistform bevorsteht.

Zwar meinte Lem später in seinem Interview-Buch Lem über Lem, dass Clarke doch einige gute Einfälle hervorgebracht habe, an dieser Stelle gibt er sich jedoch unversöhnlich. In dem Buch werde "die empirische Struktur der SF gebrochen und durch keine andere Struktur ersetzt, denn diese 'theologisch-metaphysischen Anleihen' retten weder die empirische Ordnung, noch setzen sie eine eigene, andere Ordnung" (II, 449). Clarke inszeniert ein schwierig zu meisterndes Transzendenz-Spiel, das man in manchen Einzelheiten sicherlich nicht akzeptieren muss. So ist die Idee einer außerirdisch durchgesetzten "Erziehung", die der Menschheit einige Entscheidungen aus der Hand nimmt und Lösungen für irdische Probleme findet, sicherlich eine weder realistische noch überhaupt wünschenswerte Annahme, Clarke setzt sie aber eindringlich und spannend um.

Auch entindividualisiert er das Mutanten-Thema und macht dieses zu einem globalen Kollektivprojekt. Für die einen wird es zu einem exorbitanten geistigen Abenteuer, für die anderen offenbaren sich Schattenseiten: mit der Ankunft der Aliens tritt die Masse der Menschen in ein unfreiwillig erreichtes utopisches Zeitalter, das sie ihre Entdeckerfreude und Schaffenskraft vernachlässigen lässt, während die ausgewählten Kinder sich in Enklaven wie die Insel Neu-Athen zurückziehen und auf den Quantensprung ihrer Entwicklung vorbereiten. In einer visionären Übersteigerung zeigt Clarke von einem diesseitigen Standpunkt die Möglichkeit einer großen Alternative zum Bestehenden, die eben nicht durch eine göttliche Verfügung, sondern durch eine Konzentration von mentalen Potenzialen auf verschiedenen Ebenen herbeigeführt wird.

Sicher, der "Übergeist" ist kaum fassbar, aber er ist das Ergebnis eines fortgeschrittenen außerirdischen Zivilisationsprozesses und nicht allmächtig. Man kann seinen Wirkungsbereich nur markieren, nie detailliert darstellen. In seiner grandiosen Vision reflektiert Clarke auch die Angst vor der Todesbedrohung, der Auslöschung: der Erzähler als Zeuge der Ereignisse erlebt noch, dass die menschliche Kultur vor ihrer Zerstörung in einem größeren kosmischen Sinn-Zusammenhang aufgehoben wird …

Das Buch "Die Liebenden" von Philip J. Farmer aus dem Jahr 1961 wird von Lem gleichfalls einer Prüfung unterzogen. Dieser Roman hat in der SF-Szene Furore gemacht, weil er zum ersten Mal Sex mit einem Alien zum Thema gemacht hat. Aus heutiger Sicht ist der Text ziemlich harmlos; über die Beschreibung der äußeren Attribute eines attraktiven weiblichen Frauenkörpers, den das Alien-Wesen aufgrund seiner mimetischen Fähigkeit angenommen hat, und die Andeutung von Sex geht das Buch nicht hinaus. Farmer dichtet dem Fremdwesen aber ein recht komplexes Fortpflanzungskonzept an.

Lems Vorwurf an den Autor lautet nun, dass die "Die Liebenden" nichts erkläre, nichts symbolisiere und allein eine Variante des Evolutionsprozesses darstelle, die wiederum keinen Sinn ergebe (I, 401). Der Roman ist in erster Linie jedoch eine bitterböse Religionssatire. Die menschliche Forschungsexpedition, die von einer theokratischen Gesellschaft auf der Erde ausgeschickt wurde, behandelt die Einheimischen recht herablassend und scheut auch vor Plänen des Genozids nicht zurück. Das Ausdenken einer Art Wissenschaftsreligion mit ihren ideologischen Absurditäten und praktischen Verboten steht im Zentrum des Romans, weniger die Beschreibung der Alien-Reproduktion. Deshalb geht Lems Kritik ins Leere, dass Farmer nur ein Phantasiespiel betreibe und keine ernstzunehmenden Hypothesen über die Evolution schaffe (I, 397).

Seine Romane "Der Unbesiegbare" und "Solaris"

Doch in welchem Verhältnis steht Lems Theorie eigentlich zu seiner praktischen Arbeit? Das Raumschiff "Der Unbesiegbare" sucht in dem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1964 nach einem verschollenen Schwesterschiff. Auf einem fremden Planeten entdecken sie das Wrack und beobachten metallene Schwärme in der Nähe. Ein Mitglied der Besatzung erkennt schließlich, dass es sich bei den schwarzen mobilen Teilchen um nicht-intelligente automatische Waffensysteme zur Verteidigung handelt, die sich möglicherweise in einer technischen Evolution ausgebildet haben im Kampf gegen intelligente massive Roboter - und diese besiegt haben. Ohne Sinn und echten Zweck funktionieren sie nach Jahrtausenden noch, während die ursprüngliche Konfliktlage, in der sie entstanden sind, schon lange vergessen und die Oberfläche des Planeten zerstört ist. Ohne Vorwarnung haben sie das erste Expeditionsschiff angegriffen und vernichtet.

Das ist eine spannende Geschichte, die Kriterien einer interessanten logischen Analyse eines ungewöhnlichen Sachverhalts erfüllt. Aber das Werk offenbart eine weitere spannungsgeladene Konfliktsituation, die sich aus den Unwägbarkeiten der menschlichen Psyche ergibt und die nicht so einfach rational zu lösen ist. Während des Aufenthalts hat der Kommandant verschiedene Vorstöße ins umliegende Land angeordnet, da das Bedrohungspotenzial nicht bekannt war. Soll man bei diesen Aktionen vermisste Astronauten nun zurücklassen oder soll man unter allen Umständen versuchen, sie zu retten, obwohl die ernste Gefahr für die ganze Mission jetzt richtig eingeschätzt und nicht beherrscht werden kann?

Wenn der Kommandant sich für eine Rettungsaktion entscheidet, wen soll er dann mit dieser hochgefährlichen Mission beauftragen? Spricht er jemanden an, der ihm ergeben ist, oder jemanden, der mit ihm spinnefeind ist? Wie wirkt die Entscheidung auf andere, gefährdet sie unter Umständen den Zusammenhalt? Daraus entwickelt Lem im letzten Teil des Buches ein spannendes Psychodrama.

Der Kommandant gerät von manchen unter Beschuss, weil er nach der Expertise nicht sofort den Planeten verlässt. Er ist offenbar der Meinung, dass auch die wahrscheinlich getöteten Astronauten noch Teil seiner Mannschaft sind - er muss also eine Balance halten von Sicherheitsdenken und flexibler Reaktion auf Notfälle und diese nach außen sinnvoll vermitteln. Dass am Ende einer hochriskanten zeitlich terminierten Ein-Mann-Suchaktion eines Untergebenen wenigstens persönliche Gegenstände der Opfer an Bord gebracht werden können, erweist sich als eigenartig "richtig".

Lem beschreibt in diesem Buch viel mehr als nur ein interessantes planetares Technikszenario, dass originell Kybernetikideen seiner Entstehungszeit Resonanz gibt. Der Kommandant hat viel riskiert, indem er einen so gut wie aussichtslosen Rettungsversuch in die Wege leitet, aber er schafft es, symbolisch die Einheit der Mannschaft wiederherzustellen und seine Kritiker zu beschwichtigen. Er ignoriert rationale Einwände und gewinnt eine "irrational"-emotionale Bestätigung seiner Handlungsweise. Insofern bezieht Lem hier eine literarische Wirkung aus der Eigendynamik des menschlichen Beziehungsgeflechts, das kaum auf logisch klare Funktionsweisen runterzubrechen ist, und nicht allein aus der sachlichen Schilderung einer fremdartigen technischen Existenzform.

Kann an diese überhaupt ein Maßstab der empirischen Richtigkeit angelegt werden? Lem beschreibt nicht, wie die Schwärme genau funktionieren, wie ihre Selbstreproduktion abläuft, wie sie energetisch versorgt werden. Durch solche Auslassungen wird gerade die Phantasie des Lesers angeregt, der sich fragt, was sich wohl jahrtausendelang auf dem Planeten abgespielt haben mag.

Die Faszination entsteht auch aus einer "archaisch" inszenierten Bedrohungssituation: die Mannschaft ist auf sich allein gestellt einer Gefahr ausgesetzt, ohne auf den Rückhalt der technischen Zivilisation setzen zu können. Vermutlich käme es bei ähnlichen Expeditionen in Wirklichkeit zu abgestuften Sicherheitsmaßnahmen, indem zum Beispiel automatische Sonden eine Vorhut bilden, so dass eine einzelne Mannschaft sich nicht einem solchen Risiko aussetzen müsste. Lem hat also ein mehrdimensionales Werk geschrieben, in dem die Erfassung der Metallschwärme nur ein Aspekt ist.

Wir sind ebenso der Ansicht, dass die Wirkung seines Romans Solaris nicht auf den umfangreichen Ausführungen zur Solaristik, also der Forschung über den offenbar mit Bewusstsein ausgestatteten planetaren Ozean, beruht. Lem gelingt es in diesem Meisterwerk der SF, verschiedene Dramen miteinander zu verbinden: den individuell ertragenen Ballast einer unglücklich ausgegangenen Liebesgeschichte mit der Brisanz philosophischer Fragestellungen um die Selbstbegegnung des Menschen im "Spiegel" einer unbegreiflichen andersartigen Existenzform. An dieser Stelle sei eine berühmte Passage aus dem Roman zitiert:

Wir denken uns manchmal, dass wir großartig sind. ... Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde bis an seine Grenzen erweitern. ... Wir sind so hierher geflogen, wie wir wirklich sind, und wenn die andere Seite uns diese Wahrheit zeigt, diesen Teil von ihr, den wir verschweigen, - dann können wir das nicht hinnehmen!

Die Phantome, die an Bord der Raumstation materialisieren und die in Beziehung zur Vergangenheit, zur Psyche der anwesenden Forscher stehen, sind als solche wenig wahrscheinlich. Außer dass sie aus Neutrino-Verbindungen bestehen, die außerhalb des Planeten nicht existieren könnten, erfährt man physikalisch wenig über sie - wie auch? Sie sind eine geniale Metapher für die unverarbeiteten Konflikte der Protagonisten, für ihre verdrängten Schuldgefühle.

Da über die Motivation des Ozeans nur spekuliert werden kann - sind die "Gäste" Teil einer Untersuchung, sind sie ein Geschenk oder eine Strafe? -, repräsentieren sie darüber hinaus ein für den menschlichen Verstand nicht zu lösendes Rätsel, wie es nur die SF gestalten kann. Lem macht dabei von denjenigen phantastischen Möglichkeiten des Genres Gebrauch, die er in seinen theoretischen Texten so skeptisch beurteilt. Nebenher fabuliert er zum Beispiel, dass der Planet "die Raum-Zeit-Metrik" modelliere5, ohne weiter auszuführen, was damit faktisch gemeint sein soll.

Der Herausgeber Franz Rottensteiner hat schon in den Siebzigern auf diese Spannung zwischen theoretischem Anspruch und literarischer Realisierung in Lems Werk hingewiesen:

Der Theoretiker Lem legt dem Schriftsteller Lem immer neue Hindernisse in den Weg, und der Schriftsteller Lem sucht die Theorien des Theoretikers Lem Lügen zu strafen; das Ergebnis ist jenes einzigartige dialektische Wechselspiel, jenes Pendeln zwischen Scherz und Ernst, dem Erhabenen und dem Lächerlichen, jene facettenreiche, pointierte Schreibweise, die die Lektüre Lems zum schwierigen, aber unverwechselbaren und lohnenden Vergnügen macht.

SF als Rhetorik

Die Funktion der SF-Literatur ist unseres Erachtens sowieso nicht sachliche Korrektheit, sondern Deutung, Ausschmückung, also das, was Lem als Rhetorik angesprochen hat. Es geht im engeren Sinne nicht um Wissenschaft, Information, Philosophie, sondern um Traum, Ahnung, intuitive Vorausschau. Jeder Text ist eine "symbolische Maschine", die - wenn sie gut funktioniert - einen Überschuss-Sinn erzeugt.

Beim Lesen eines literarischen Werks zieht vor dem inneren Auge des Betrachters der Buchseiten ein ganzer Strom von gestalteten Impressionen und Ideen-Splittern vorbei, die schwerlich einer logischen Kohärenz zu unterwerfen sind. Dem gegenüber weisen wissenschaftliche Texte mit ihrer strengen Argumentation ein viel geschlosseneres Diskurs-Universum auf. Als Literat schreibt man etwas, das über einen hinausgeht - aufgrund der Anlage ist "mehr" drin in seinem Werk, als der Autor sich beim Schreiben gedacht, ausgelotet hat. Der Schriftsteller gibt den Kontext einer Zeichen-Welt vor, den der Leser je nach seinen Voraussetzungen aktiv mit Inhalten füllt.

Sprache geht sequentiv vor: sie kann nichts gleichzeitig zeigen (was gerade die Fotografie vermag), sondern immer nur - hintereinander und schrittweise. Erst der Empfänger baut durch seine aktive - obgleich oft nicht bewusste - Anstrengung aus jenen, in der Austastung erlangten Bruchteilen eine gewisse, genügend kohärente Ganzheit zusammen.

(I, 25)

Lem schreibt von einer "polystrukturellen Mischung", in der die semantische Gestalt des Werks entsteht (I, 389). Was Lem in diesem Fall auf die Tonart von Gedichten bezieht, lässt sich übertragen auf größere Texteinheiten. Die Vielfältigkeit des einbezogenen Materials und des sprachlichen Ausdrucks wird dabei irgendwann vom Autor nicht mehr beherrscht, er verliert im positiven Sinne die "Kontrolle" über den Text. Das nicht nur, weil das Schreiben ein "selbstorganisierter Prozess" (I, 447) ist, den der Autor in Gang setzt, sondern auch, weil in ihm Bedeutungskomplexe verdichten können, die sich seiner bewussten Aufmerksamkeit entziehen.

Wir erinnern hier an Manfred Geiers Analyse von Solaris6, in der dieser den Ozean aufgrund seiner Umschreibung an verschiedenen Stellen als (unbewusste) Metapher für die weibliche Vagina interpretiert.

Kurz, die Literatur geht nicht auf in einer empirischen Erfassung von Wirklichkeit. Ganz im Gegenteil, oft hat man eher den Eindruck, dass, je näher man den Tatsachen kommen will, sie sich umso mehr auflösen. Die realistische Welt-Deutung ist selbst schon immer "niedrig"-phantastisch, -fiktiv (und dabei begrenzt durch die Einschränkungen der "akzeptierten" sozialen Umwelt). Zeugen eines Verkehrsunfalls geben graduell verschiedene Beschreibungen ein und desselben Ereignisses.

Im Rekurs auf unsere Einleitung behaupten wir, dass die Vorstellungskraft grundsätzlich "anti-empirisch" ist. Die literarische Fiktion findet statt in einem anderen "Realitätsmodus". Wir zitieren Dieter Wellershoff, einen Vertreter der realistischen Literatur:

Mit der Fiktion kann die Erfahrung aber im Gegenteil gerade erweitert werden, weil die Bedingungen der Wirklichkeit entfallen, in der das, was man tut, Konsequenzen hat. Man ist viel offener; man gewinnt einen zusätzlichen Freiheitsgrad.

Und diese Freiheit bezieht sich nicht nur auf die "formal-symbolische" Dimension, sondern auch auf die inhaltliche.

"Das Zentrale ist die Idee, nicht die Theorie"

So lautete der Slogan einer Projekt-Ausstellung in New York aus dem Jahr 2010. Die Ideen stellen eine dritte Kategorie zwischen Theorie und Praxis dar als Konstrukt aus eigenem Recht. Das macht gerade ihre befreiende Komponente aus. Eine solche Haltung ist ein Ausdruck amerikanischen Denkens - man muss etwas nicht von vornherein kritisch begründen -, während Lem mehr für eine europäische Einstellung steht - aus einer konsistenten Theorie wird die Praxis abgeleitet. In diesem Zusammenhang ist es keine Überraschung, dass sich die moderne SF als Ideen-Literatur besonders in den USA durchgesetzt hat.

Eine SF-Idee muss nicht streng theoretisch oder empirisch ableitbar sein, ihr Geltungsbereich liegt irgendwo zwischen einer ausgearbeiteten begründeten Theorie und einer erschöpfend beschreibbaren Praxis. Sie behandelt eine Idee der Zukunft neben anderen Aspekten wie Alternativgeschichte oder Kontakt mit fremdartigen Intelligenzen.

Naturgemäß spielen Technik und Wissenschaft bei der Gestaltung von Zukunft eine bedeutende Rolle, aber keine ausschließliche. In dieser Hinsicht ist Ballards Karneval der Alligatoren ein SF-Roman, weil er eine eigenartige Perspektive auf eine zukünftige Welt im Umbruch zeichnet. Dabei favorisiert Ballard jedoch Stimmungsbilder und keine technischen Skizzen.

Nehmen wir als konkretes Ideen-Beispiel den Cyberspace, der von William Gibson Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts eingeführt wurde. Seine bildhafte Gestaltung hat wenig zu tun mit der tatsächlichen Entwicklung von Internet- oder VR-Technologien seitdem, er vermittelte jedoch zum ersten Mal die aufregende Ahnung einer Virtualität, einer technisch erzeugten "Parallelwelt" mit ihren Chancen und Gefahren.

Ein gutes SF-Symbol ist immer wieder "aufladbar" mit neuen zeitbedingten Zusatzideen, ohne seine tradierte Verdichtungsfähigkeit und Attraktion für Assoziationen zu verlieren. Es bündelt Vorgänge einer multikontexturellen Bezeichnung, die wissenschaftlich sein können, aber auch popkulturell. Andere Symbole von anderen Autoren, die zur selben Zeit wie der Cyberspace entstanden und ebenso eine virtuelle Welt bezeichneten, waren offenbar nicht so überzeugend in ihrer Wirkmächtigkeit.

Der Cyberspace ist keine exakte Vorwegnahme, eher eine Leitidee für einen ganzen Kanon an Folgeideen. Andere Autoren haben über virtuelle Welten schon vorher nachgedacht oder haben danach diese Sphären mit weitergehenden Ideen bevölkert. Außerdem liegt, was seine gesellschaftliche Durchsetzung betrifft, auch ein Lem mal empirisch falsch. 1992 prognostizierte er in dem Essayband Die Vergangenheit der Zukunft, dass das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine wahre Flut an VR-Technologien erleben werde7 - offenbar eine Fehlprognose.

Die Qualität der SF-Literatur erweist sich sowieso nicht darin, ob sie kommende Technologien richtig prognostiziert oder nicht (was bei einer richtigen empirischen Basis ja möglich sein müsste). Wissenschaftliche Elemente können ihr Konzept tragen, aber es müssen nicht ausschließlich solche sein - im Laufe der Lektüre eines Romans werden derart viele Elemente vom Leser verknüpft, die nicht alle logisch-abgeschlossen sein können.

SF als "endgültige" Art der Phantastik

In dem schon erwähnten Aufsatz Die SF - strukturalistisch gesehen bezeichnet Lem die SF als "endgültige" Art der Phantastik. Geleitet ist sie für ihn von der Suche nach den "Grenzzonen" des Menschen, der Vernunft, der Gesellschaft. Über Lem hinausgehend sagen wir, dass die idealerweise durch die SF evozierte phantastische "Vernunft" dabei die (natur)wissenschaftliche umfassen kann, ohne auf diese reduzierbar oder gar durch diese garantiert zu sein.

Die SF stellt ein Spiel mit rationalen Elementen dar, die nicht - um des Spiels willen - bis zur letzten Konsequenz "durchrationalisiert" sein müssen: die Anders-, Fremdartigkeit bleibt für die Darstellung bedeutsamer als die logische Plausibilität (die auch gar nicht umfassend möglich ist, sondern nur partiell). Das heißt nicht, dass sich die SF keine Regeln geben kann. Die phantastische Vernunft findet ihren Ausdruck in der kontrollierten Spekulation, wie sie gerade Lem favorisiert hat.

Die SF kann Problemzusammenhänge, die erst in Ansätzen existieren, mittels ihrer eigenen Gestaltungslogik zu Ende "spinnen" (ohne dass eine eindeutige Zuspitzung möglich wäre, da niemand die Zukunft vorhersagen kann). Sie kann solche Probleme überzeichnen, verfremden, da nur die Wahrscheinlichkeit, die Adäquatheit ihrer Rahmenbedingungen annähernd gesichert sein muss und es auf ihre umfassende empirische Richtigkeit gar nicht ankommt, schon deshalb, weil für solche Probleme noch gar keine genaueren Vorstellungen, Erfahrungswerte existieren.

SF ist im weitestgehendsten Fall ein Gedankenspiel mit den Existenzbedingungen in toto, ohne Rücksicht auf die Naturgesetze und kulturelle Gegebenheiten. Die Freiheit der Vorstellungskraft ist dabei von größerer Wichtigkeit als das Befolgen von (vermeintlich) logischen Konventionen. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Phantasie kann dabei auch gar nicht so genau gezogen werden, wie Lem später kommentiert, weil er sonst ein Sachbuch wie die Summa technologiae gar nicht hätte schreiben können, wenn er sich an den verabredeten Konsens der Wissenschaftler über die Limitierungen des zeitgenössischen Wissens gehalten hätte8.

Magnusson dagegen koppelt die SF sehr eng an die Wissenschaft und grenzt sie auf ihren Charakter als Gedankenexperiment ein:

SF ist die möglichst knapp bemessene Fiktionalisierung wissenschaftlicher Fakten, deren Hauptzweck darin liegt, die Realisierung neuer technischer Objekte gedanklich vorzubereiten und ihre Zukunftsfähigkeit abzuschätzen. SF ist vor allem ein mentales Versuchslabor.

(S. IV)

Wir weisen darauf hin, dass die SF verschiedene Schreibweisen umfasst, in denen Fakten und Informationen eine unterschiedliche Gültigkeit besitzen. Die empirische Grundlage ist in der so genannten Hard SF, die sich etwa mit dem möglichen Aussehen von Wesen auf einem Planeten mit sechsfach erhöhter Schwerkraft befasst, naturgemäß ausgebauter, im Unterschied zu anderen Vorgehensweisen innerhalb des Genres.

Die SF ist insofern realistische Literatur, was die Akzeptanz der konkreten physischen Bedingungen angeht, darin auch protowissenschaftlich, aber sie erlaubt zugleich auch einen Sinn-Überschuss, der nicht in der vernünftigen Beschreibung aufgehen kann, schließlich bleibt ein solcher Planet eine Erfindung des menschlichen Geistes. Sie weitet so zum einen die realistische Basis der Literatur aus, indem sie fiktionale außerirdische und zukünftige Zeiträume einbezieht, die mangels strikter empirischer Beweisbarkeit phantastisch bleiben, zum anderen sorgt sie durch das Ausmalen von phantastischen Ereignissen und Objekten für eine Ausweitung des Erzählraumes als solchem. Deshalb kann man Ballard trotz der erzählten irrealen Vorgänge in einer allgemein real beschriebenen Umwelt zur SF zählen, da man diesen eine metaphorische Bedeutung beimessen kann.

Die Attraktion der SF für Autoren kann vielfach sein und ein Spektrum von Beziehungen hervorbringen, das größer ist als in jeder anderen Literaturgattung: beispielsweise die zeitnahe Verfremdung der irdischen Realität, die Verschränkung solcher Realitäten mit irrealen Traumwelten und die Gestaltung von weitestgehend losgelösten fernen Parallelwelten, die aber noch realistische Funktionsanteile haben (damit der Leser sie nachvollziehen kann).

Festzuhalten bleibt, dass das Schaffen großer SF-Konzepte der einzige "Ausweg" ist, eine historische und physische Wirklichkeit mit sozialer Einengung und Gebundensein an die Naturgesetze wenigstens imaginär zu übersteigen, indem man die Deutungskapazität von Wirklichkeit erweitert und tendenziell alles von einem kosmischen Standpunkt aus betrachtet. Die SF drückt von ihrer ganzen Anlage her aus, dass die vorgefundene Wirklichkeit nicht ausreichend ist und sich die Grenzen des Realen verschieben lassen.

Fazit

Magnussons Arbeit ist wertvoll, weil sie den besonderen SF-Ansatz von Lem wieder ins Gedächtnis gerufen hat. Die Differenz zwischen dem Theoretiker und dem "Praktiker" Lem geht bei Magnusson leider völlig verloren. Wenn man dessen Erbe aber bewahren will, muss man auch die Begrenzungen anerkennen.

Ein Gutes haben die empirischen Regelverletzungen seiner Kollegen ja gehabt - von diesen provoziert fühlte Lem sich berufen, "eine Sprache der erdachten Wissenschaft" zu erfinden. Das Ergebnis war unter anderem eine Reihe von Besprechungen fiktiver Bücher - von der Geschichte der bitischen Literatur bis hin zu Non serviam.

  1. Dank an Peter Kempin für die Anregungen

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