Wer bekommt das Berliner Stromnetz?

Vorteil Vattenfall durch Verschleierung: Eine Genossenschaft kämpft nicht nur gegen den momentanen Betreiber, sondern auch gegen die Regeln des Verfahrens. Dadurch hat der Fall bundesweite Relevanz

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Die Bürgerenergie Berlin ist einer von fünf Bewerbern um die Konzession für den Betrieb des Berliner Stromnetzes, die ab Januar 2015 frei wird. Wie sie bewirbt sich die Thüga AG um einen Netzbetrieb zusammen mit dem Land Berlin. Der derzeitige Betreiber Vattenfall und der niederländische Netzbetreiber Alliander AG bewerben sich jeweils um einen Alleinbetrieb des Netzes (Stromnetz soll zurück in Bürgerhand). Fünfter Bewerber ist das Land Berlin selbst, dessen neu geschaffenes Stadtwerk im Wettkampf nicht bevorteilt werden darf.

Luise Neumann-Cosel (27) ist eine von zwei Vorständen der Genossenschaft Bürgerenergie Berlin.

Am 3. November ging der Berliner Volksentscheid zur Rekommunalisierung des Stromnetzes verloren (Der Berliner Energie-Volksentscheid ist gescheitert). Viele Menschen, auch außerhalb Berlins, trauern dieser verpassten Gelegenheit hinterher. Was überwiegt bei Ihnen: Trauer oder Freude?

Luise Neumann-Cosel: Das kann man so nicht sagen, denn die Entscheidung über das Stromnetz ist noch gar nicht gefallen. Dieser Eindruck entsteht wegen des Volksentscheids, aber der wäre vor allem ein starkes politisches Signal gewesen. Die Entscheidung über das Netz fällt im Konzessionsvergabeverfahren, und das beginnt jetzt eigentlich erst so richtig. Da ist noch alles offen.

Aber wäre eine komplette Rekommunalisierung in Ihrem Sinne gewesen? Sie wollen ja das Netz gemeinsam mit dem Land betreiben.

Luise Neumann-Cosel: Deswegen wollen wir ja auch ein bisschen mehr als der Volksentscheid wollte: eine direkte Bürgerbeteiligung. Das haben wir nie verhohlen. Das stand aber auch nie dem Volksentscheid entgegen, deshalb haben wir ihn unterstützt. Unsere Beteiligung wäre mit dem Gesetzesentwuf des Energietisches vereinbar gewesen.

Wie ist der Stand im Konzessionsverfahren?

Luise Neumann-Cosel: Mittlerweile ist der erste Verfahrensbrief beantwortet, das ist sozusagen der erste Eignungsnachweis. Alle Bewerber mussten dem Land Berlin nachweisen, dass sie grundsätzlich technisch, wirtschaftlich und finanziell in der Lage sind, dieses Stromnetz zu betreiben. Diesen Test haben wir bestanden. Wir warten jetzt auf den zweiten Verfahrensbrief, der Anfang des nächsten Jahres kommen soll. Dann müssen die fünf Bewerber Farbe bekennen und genauer skizzieren, wie sie sich das vorstellen mit dem Stromnetzbetrieb, auch was Bürgerbeteiligung und die Einbindung erneuerbarer Energien angeht. Es geht also um ein innovatives Betriebskonzept. Nach dieser Angebotsrunde gibt es dann die ersten Gespräche zwischen dem Berliner Senat und den Bietern. Dann wird es zum ersten Mal richtig interessant.

"Wettbewerbsverzerrung" im Konzessionsverfahren

Ihr Aufsichtsratsvorsitzender Hartmut Gaßner sagte vor einigen Wochen auf einer Generalversammlung der Genossenschaft, die Verfahrenskriterien seien "Wettbewerbsverzerrung" und "Nonsens". Was ist Ihre Kritik am Konzessionsverfahren?

Luise Neumann-Cosel: Das Problem am Verfahren ist, dass die Vergabestelle im Prinzip davon ausgeht, dass ein neuer Netzbetreiber auf der grünen Wiese ein Netz aufbauen muss. Dem ist ja nicht so: Hier gibt es ein funktionierendes Netz, an dem 1400 Personen arbeiten. Diese Tatsache zu ignorieren ist völlig widersinnig, das ist weder wirtschaftlich noch technisch sinnvoll. Das macht es auch für alle Bewerber, die nicht der jetzige Netzbetreiber sind, unheimlich viel schwieriger darzustellen, wie der Stromnetzbetrieb aussehen kann.

Für die Bewerber, die sozusagen von außen kommen, sind sehr viel weniger Informationen über den jetzigen Netzbetrieb vorhanden. Das macht das Verfahren sehr ungleich. Wir haben das Land Berlin schon massiv gerügt und fordern, dass die Vergabekriterien, die noch im Entstehen sind, anders aussehen als zum Beispiel im Verfahren für das Gasnetz, wo es Festlegungen schon im Vorfeld gibt und man als Bewerber davon ausgehen muss, dass das Netz nicht vorhanden ist.

Was genau haben Sie in ihrer Verfahrensrüge an die zuständige Senatsverwaltung gefordert, und was hat es gebracht?

Luise Neumann-Cosel: In der Rüge, die wir im Frühjahr ausgesprochen haben, haben wir unter anderem moniert, dass es viel zu wenig Informationen über die Personalsituation gibt. Da hat Vattenfall immer nur davon gesprochen, dass beim Tochterunternehmen, das die Konzession innehat, nur 150 Personen arbeiten. Es war aber völlig klar, dass am Stromnetz noch mehr Leute arbeiten. Gerüchteweise waren es 1.000 bis 1.500. Es gab keinerlei Informationen darüber, in welchen Unternehmen die beschäftigt sind, mit welcher Stellenstruktur und zu welchen Tarifen. Erst nach der Verfahrensrüge hat die zuständige Behörde, die Senatsverwaltung für Finanzen, Vattenfall offensichtlich aufgefordert, da mehr Daten zur Verfügung zu stellen.

Jetzt wissen wir ein bisschen mehr, sind aber nach wie vor weit davon entfernt, dass die Daten dafür ausreichen, ein Angebot zu schreiben. Vattenfall ist immer noch in einer unglaublichen Vorteilsposition gegenüber allen anderen Bewerbern. Wir werden also sowohl was die Kriterien angeht, als auch was die Daten angeht, weiter rügen.

Die Ordnungspolitik des Bundeskartellamts

Dann wird es eine weitere Verfahrensrüge von Ihnen geben?

Luise Neumann-Cosel: Es ist noch nicht klar, in welcher Form wir das machen werden. Das werden wir Anfang des nächsten Jahres sehen. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Auseinandersetzung auch das Bundeskartellamt. Es mischt sich in viele Verfahren ein, gerade in den großen Städten: Berlin, Stuttgart, Hamburg. Da ist es intensiv in die Vergabeverfahren eingebunden und wird detailliert konsultiert. Das Bundeskartellamt macht eine gewisse Ordnungspolitik und bestimmt die Anwendung der Kriterien. Es sorgt damit dafür, dass der aktuelle Netzinhaber sehr stark bevorteilt wird.

Um deutlich zu machen, woher das kommt: Die Struktur des Verfahrens, die davon ausgeht, dass der neue Netzbetreiber im Prinzip mit leeren Händen dasteht, die kommt daher, dass das in einer kleinen Kommune durchaus der Fall sein kann - wenn nämlich ein größerer Netzbetreiber, der in einer Region mehrere Netze hat und die Konzession in einem kleinen Ort verliert, dann sein Personal von dort abzieht. Eine Stromnetzübernahme in Berlin oder Hamburg ist damit aber nicht vergleichbar. Dieser Tatsache tragen aber die verfahrensführende Behörde und das Bundeskartellamt, das sehr stark in diese Richtung wirkt, überhaupt nicht Rechnung.

Warum wirkt das Bundeskartellamt da so mit, beziehungsweise warum so stark?

Luise Neumann-Cosel: Da betreten wir das Reich der Spekulation. Der Hintergrund ist, dass es seine Aufgabe darin sieht, für einen fairen Wettbewerb zu sorgen. Ich will ihm nicht unterstellen, dass es einen Bewerber absichtlich bevorteilt, aber die Folge dieser Ordnungspolitik ist, dass eben kein fairer Wettbewerb herrscht. Da werden Tatsachen ignoriert.

In der Vergangenheit war oft zu sehen, dass das Bundeskartellamt besonderes Augenmerk darauf legte, dass kommunale Bewerber auf keinen Fall bevorzugt werden. Kommunen können ja gleichzeitig Bewerber sein und den Zuschlag erteilen. Das mag eine Erklärung von mehreren sein, warum das Kartellamt da so Druck macht. Die Befürchtung, dass eine Entscheidung willkürlich getroffen wird, ist offenbar größer, wenn es um den politischen Willen zur Kommunalisierung geht.

Das ist eine grundsätzliche, ordnungspolitische Frage, die eine wahnsinnige Bedeutung hat: Liegt es nicht im Selbstverwaltungsrecht einer Kommune, dass sie die Aufgaben der Daseinsvorsorge selbst erledigen will? Das steht im Grundgesetz, und die Frage, was das für Konzessionsverfahren bedeutet, ist eine Dauerauseinandersetzung, die die Gerichte gerade führen. Das Kartellamt steht da sehr stark auf dem Standpunkt, der Netzbetrieb sei keine Frage der Daseinsvorsorge und über ihn dürfe nicht politisch entschieden werden.

Mit welchen Argumenten wollen Sie im Verfahren gegenüber den konkurrierenden Großunternehmen punkten?

Luise Neumann-Cosel: Wir haben mit unserer alternativen Eigentümerstruktur einen entscheidenden Vorteil: Wir müssen nicht darauf setzen, jeden Cent aus dem Netz herauszuholen. Wir können zugunsten eines nachhaltigen Netzbetriebs auf Profite verzichten. Das wird kein anderer Bewerber zugestehen wollen. Außerdem stehen wir dafür, dass auch durch den Netzbetrieb die Energiewende vorangebracht werden kann. Und wir können natürlich mit dem am stärksten bürgernahen Konzept punkten, das man sich vorstellen kann.

Energiegenossenschaften können sehr große Summen auf die Beine stellen

Im Fall des Zuschlags rechnen Sie damit, 200 Millionen Euro aufbringen zu müssen. Sie verfügen momentan aber selbst einschließlich des treuhänderisch verwalteten Geldes von Menschen, die erst im Fall der Beteiligung am Netzbetrieb Genossenschaftsmitglied werden wollen, nur über acht Millionen Euro. Sind Sie nach wie vor zuversichtlich, die 200 Millionen dann auftreiben zu können?

Luise Neumann-Cosel: Ja. Es ist uns bewusst, dass das eine große Aufgabe ist, und es wird uns auch nur gelingen, wenn sich viele Menschen beteiligen und sich dafür einsetzen. Aber wenn man sich anschaut, was Energiegenossenschaften in der Lage sind, auf die Beine zu stellen, dann sind das Summen, die deutlich über das hinausgehen, was wir hier brauchen. Eine Beteiligung am Stromnetz ist ja keine Spende, sondern eine nachhaltige und regionale Geldanlage. Wichtig ist das politische Signal des Senats, dass er sagt: Wir wollen die Bürger ernsthaft beteiligen, wir wollen sie wirtschaftlich teilhaben lassen.

Die Bürgerenergie Berlin hat 600 Mitglieder. Ist das ein guter Wert nach anderthalb Jahren - bei der öffentlichen Präsenz des Projekts und dem deutschlandweiten Boom von Energiegenossenschaften?

Luise Neumann-Cosel: Es sind ja nicht nur 600 Mitglieder, sondern weitere 1.200 Menschen, die Geld auf ein Treuhandkonto gezahlt haben. Es ist ein guter Wert für den Anfang. Dass wir mehr werden müssen, ist klar. Es ist eine ähnliche Frage wie die nach dem Geld. Der typische Verlauf, den man bei Energiegenossenschaften beobachten kann, ist, dass es eine Entstehungsphase gibt, wo nur die Risikofreudigen dabei sind, die Pioniere, die eine Idee unterstützen wollen. Erst wenn klar ist, dass das Projekt umgesetzt wird, kommt die Phase, in der sich viele Menschen beteiligen. Im Vergleich zu anderen Energiegenossenschaften sind wir in einer sehr frühen Phase.

Wie viele Mitglieder haben Sie von außerhalb Berlins?

Luise Neumann-Cosel: Weniger als ein Viertel der Mitglieder.

Sie wollen prüfen, ob Sie sich auch um das Gasnetz bewerben, dessen Konzession noch vor der des Stromnetzes ausläuft. Wie weit sind Sie da, und ist das mit dem Genossenschaftszweck vereinbar?

Luise Neumann-Cosel: Wir können uns da gar nicht mehr bewerben. Wir wollen prüfen, ob es nicht sinnvoll sein kann, über eine Beteiligung nachzudenken. Der Fall, den wir da im Kopf haben, ist, dass sich ein Netzbetriebsunternehmen gründet, das mehrheitlich in öffentlicher Hand ist und sowohl Strom- als auch Gasnetz betreibt. Wenn man Gasnetze nicht nur als Versorgungsstruktur, sondern auch als Speicher sieht, dann sind sie wie Stromnetze ein wichtiges Element für die Energiewende. Auf unserer Generalversammlung haben wir das diskutiert und die Zustimmung war sehr groß.

Die Voraussetzung dafür wäre aber, dass das Stadtwerk des Landes Berlin den Zuschlag nicht nur für das Stromnetz bekommt, sondern auch für das Gasnetz. Und dass es dann beschließt: Es wäre sinnvoll, einen Investor dazuzuholen.

Luise Neumann-Cosel: Genau. Aber als Teilhaber, wir sehen uns ja nicht nur als Investor.

Dass Sie beim Gasnetz dazugeholt werden, wäre auch möglich, wenn Vattenfall das Stromnetz behält?

Luise Neumann-Cosel: Ja.