Ehrliche Finder schaffen Sozialkapital

Was der Geldbörsentest über das soziale Leben in Metropolen verrät

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Eine ebenso ungewöhnliche wie erfolgreiche Methode, Ehrlichkeit und Vertrauen in Metropolen zu messen, hat das US-amerikanische Magazin Reader's Digest angewandt. Im "Wallet-Test" legten die Amateur-Sozialforscher in 17 internationalen Metropolen je 12 Brieftaschen aus. Deren Inhalt: Businesskarten, ein Familienfoto, eine Telefonnummer und umgerechnet 50 Dollar. Wie viele würden den Weg zurück zum Besitzer finden?

Das Ergebnis kann beanspruchen, die Welt, zumindest ihren sozialen Zustand in Metropolen, neu zu werten, denn auf Platz zwei der ehrlichsten Städte fand sich die indische Millionenmetropole Mumbai. Während Helsinki als Siegerin keine Überraschung darstellt, widerlegt auch Budapest als Nummer drei das Vorurteil, die materielle Not vieler Bewohner würde diese sozusagen zwingen, das Geld aus verlorenen Geldbörsen an sich zu nehmen. Hier die Liste:

Auch in den beinharten Weltstädten New York und Moskau kann man eher auf die Hilfsbereitschaft der Ortsansässigen hoffen, als etwa in den beschaulichen und eleganten Mittelstädten Zürich und Ljubljana.

In Ljubljana beobachten die Tester, wie ein Herr zum Telefon greifen wollte - um dann flugs samt Portemonnaie mit seiner Luxuslimousine wegzufahren. In Zürich konnte ein Tramfahrer der Versuchung nicht widerstehen, obwohl doch die Zürcher Verkehrsbetriebe ein eigenes Fundbüro betreiben. Dass ausgerechnet dort nur vier von zwölf Brieftaschen zurückgegeben wurden, ist ein interpretationsbedürftiges Phänomen.

Verbindendes vs. überbrückendes Sozialkapital

Offensichtlich besteht eine gehörige Differenz zwischen dem philanthropischen Selbstverständnis der Schweizer und deren gelebter Praxis in Hilfsbereitschaft, Empathie und Vertrauen. So bewerteten die Eidgenossen selbst auf einer Skala von 1 (ist gestiegen) bis 10 (ist gesunken) das Vertrauen und die Hilfsbereitschaft im Durchschnitt nur mit 5,5. Zum Vergleich: Die Dänen bewerten diese Tugenden durchschnittlich mit 2,5.

Das Sozialklima selbst aber hielten die Schweizer mit 2,8 im Schnitt für erheblich besser. Dies könnte damit erklärt werden, dass in den Sozialwissenschaften zwischen bonding (verbindendem) und bridging (überbrückendem) Sozialkapital unterschieden wird. Während Vertrauen und Hilfsbereitschaft eher die Brücke zwischen Einheimischen und Fremden, Armen und Reichen bilden, kann das örtliche Sozialklima dann besonders gut empfunden werden, wenn man sich in eine Gemeinschaft integriert fühlt. Dabei entsteht das Paradox, dass zwar Einheimische ihr Sozialklima als gut empfinden mögen, Besucher aber nicht.

Bezogen auf den Geldbörsentest in 17 Weltmetropolen könnte das bedeuten, dass eine hohe Zahl zurückgegebener Geldbörsen auf ein hohes Ausmaß an überbrückendem Sozialkapital hindeutet. Wer sich in Prag, Madrid und Lissabon in den richtigen Kreisen bewegt, wird dort aber durchaus auch Geborgenheit, Vertrauen und auch Hilfsbereitschaft erfahren. Auch in manchen Vierteln von Berlin und London entsteht eine fast dörfliche Kollegialität, wie etwa die ersten Ergebnisse des derzeit durchgeführten Berliner Soziaklimaindex zeigen.

Aber diese interne Nestwärme nützt den fremden Geldbörsenverlierern nichts. Sie erfahren im Grunde Anonymität, Gleichgültigkeit und Ausgrenzung - und das inmitten von Städten, die wie etwa Berlin, London und Zürich stolz auf ihre vielfältigen und multikulturellen Szenen, auf ihre Kultur und ihren Kosmopolitismus sind.

Pech für die Gäste: Wer nicht dazu gehört, für den sind Bürgertugenden wie Fairness oder Ehrlichkeit nicht gültig. So, wie in der hellenischen Demokratie diese nicht für die Sklaven galt, werden auch manche Kernelemente des Sozialkapitals nicht unbedingt geteilt.

Geschenke statt Netzwerke

Vom österreichischen Sozialkapitalforscher Ernst Gehmacher stammt das Bonmot: "Auch eine Räuberbande hat Sozialkapital." Die vielgerühmten Netzwerke jeder Art mögen ihre Mitglieder noch so hervorragend vernetzen, ihnen Einkaufs- und Wettbewerbsvorteile bringen; der Gemeinschaft nützt dieser soziale Zusammenhalt wenig. Wenn eine erfolgreiche Gruppe auf Kosten anderer agiert, werden Netzwerke zum gesellschaftlichen Verlustgeschäft.

Es könnte deshalb sinnvoll sein, Sozialkapital nicht als Menge und Qualität von Beziehungen zu definieren, sondern als Summe immaterieller Werte. Damit wären alle Beziehungen, deren Mittelpunkt die Erlangung eines wirtschaftlichen Vorteils ist, kein Gegenstand mehr von Sozialkapital, sondern blieben im Rahmen von Kapital, Dienstleistung und Werbung messbare Aktionen der eigenen Gewinn- und Erfolgsoptimierung.

Wer in einer Großstadt eine Brieftasche zurückbringt, noch dazu eine, für die er aufgrund des bescheidenen Wertes keinen Finderlohn erwarten kann, verfügt offenbar über eine große Portion überbrückendes, etwa altruistisches Sozialkapital.

Wenn die Städte dieses Kapital entdecken und fördern könnten, wäre es der Schlüssel zur Lösung der Probleme in Sicherheit, Sozialem und Gesundheit.

Die 5.000 Wäscher an Mumbais zentralem Waschplatz, dem Dhobi Ghat, könnten dann etwa für Mumbais Sozialkapital so wichtig sein, wie einst die in Berlin und London wegrationalisierten Busschaffner für ihre Heimatstädte.

Sozialkapital ist nicht unbedingt wirtschaftlich. Es geht dabei um Geschenke. Um Aufmerksamkeit. Um Solidarität. Um Gastfreundschaft. Dass ausgerechnet zwei Städte, die oft mit Verkehrschaos, starken sozialen Gegensätzen und Kleinkriminalität in Verbindung gebracht wurden, nämlich Mumbai und Budapest, die Plätze zwei und drei dieses bemerkenswerten Experiments belegen, lässt hoffen: Dass immaterielle Werte offenbar trotz Globalisierung und weltweiter Vereinheitlichung der ökonomischen Normen bewahrt werden. Und dass Wohlstand und Sozialkapital nicht identisch sind.

Alexander Dill ist Gründer und Vorstand des Basel Institute of Commons and Economics, das auf die Erforschung von Sozialkapital spezialisiert ist.