Lässt sich Bildung überhaupt industrialisieren?

Der Unterricht im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit - Teil 4

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In den 1950er Jahren veröffentlichte Milton Friedman, der große Ökonom und Vordenker des Neoliberalismus, einen visionären Aufsatz. Friedman fragt darin, welche Rolle der Staat in der Bildung spielen soll, und macht einen wegweisenden Vorschlag: Die Regierung solle den Eltern Bezugsscheine für bestimmte Bildungsangebote aushändigen und ihnen ansonsten überlassen, ob sie diese bei einem staatlichen oder privaten Anbieter einlösen wollen.

Die Regierungen würden ein Mindestmaß an Bildung definieren und dieses finanzieren, indem sie den Eltern Gutscheine über eine bestimmte Höchstsumme pro Kind geben, die dann für >anerkannte< Bildungsangebote eingelöst werden können. Die Eltern stünde frei, diese Summe oder jede beliebige zusätzliche Summe für solche Angebote auszugeben. Als Aufgabe des Staates wäre lediglich, sicherzustellen, dass die Schulen bestimmte Mindestanforderungen erfüllen wie beispielsweise einen bestimmten Lerninhalte in ihren Unterricht behandeln, genau so wie die Regierung heute Restaurants inspiziert, damit sie Mindestanforderungen der Hygiene einhalten. … Die Eltern könnten dann in viel größerem Maße, als dies heute möglich ist, ihrer Meinung über die Schule direkt Ausdruck geben, indem sie ihre Kinder aus der einen Schule herausnehmen und in eine andere schicken.

Milton Friedman

Als Friedmans Essay erschien, kam die Idee vielen Lesern absurd vor. Wir haben uns mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, dass Lernen eine individuelle Investition sei. Entscheidender ist aber Friedmans charakteristisches Desinteresse für das, was da eigentlich verteilt werden soll. In dieser doktrinären Darstellung unterscheidet Bildung nichts von irgendeiner anderen "Dienstleistung", eine Schulstunde in Mathe nichts von einer Pizza. Bildung lässt sich beliebig aufspalten und von persönlichen Beziehungen trennen.

Eine solche Bildung gibt es nicht. Dies nicht etwa, weil Menschenfreunden bei dieser Vorstellung das Herz bluten muss. Der Schulbildungsmarkt, den Friedman skizziert, ist auch für eiskalt kalkulierende Bildungsökonomen nicht erstrebenswert. Denn was würde ein permanenter Schulwechsel für Kinder und Jugendliche bedeuten? Wie wäre er zu organisieren? Woher sollen die neuen Lehrkräfte überhaupt wissen, was das Kind bereits gelernt hat?

Die Transaktionskosten auf Bildungsmärkten sind, um es im neoklassischen Jargon zu sagen, prohibitiv hoch. Zu diesen Folgekosten gehören der Zeitaufwand für die Suche nach einer angeblich besseren Schule, die Kontrollkosten (unter anderem, weil konkurrierende Anbieter versuchen werden, die jeweiligen Überwachungssysteme zu unterlaufen), vor allem aber die Frustration von Kindern und Jugendlichen, die "einfach nur lernen" sollen, ohne die Gemeinschaft Gleichaltriger, ohne Schulfreunde, ohne gewachsene Beziehungen zu ihren Lehrern.

Das Internet als neoliberales Paradies

An dieser Stelle kommt das Internet ins Spiel, in mehrfacher Hinsicht die Technik des Neoliberalismus. Logistik und Internet waren die praktischen Voraussetzungen dafür, dass Weltmärkte seit den 1970er Jahren ausgeweitet wurden. Ideologisch war das Netz die scheinbar wirklich gewordene neoliberale Utopie: ein Raum, in dem "Transaktionskosten" vermeintlich keine Rolle mehr spielen und alles Markt werden kann.

Auf dem Höhepunkt der Globalisierungseuphorie drückte der Autor Thomas Friedman diese Utopie mit einem bezeichnenden Satz aus: "Die Welt ist flach". In einem Interview erklärte er:

Ich war in Indien und machte ein Interview mit einem Unternehmer. Und der sagte zu mir: "Tom, das Spielfeld ist eingeebnet worden!" ... Ich dachte darüber nach, und dann traf es mich wie ein Blitz: Um Himmels Willen, die Welt wird flach! Verschiedene technologische und politische Entwicklungen sind zusammengekommen und haben eine globales, netzbasiertes Spielfeld geschaffen, das unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit möglich macht, unabhängig von Geographie oder Entfernung und demnächst sogar unabhängig von der Sprache.

Flach ist diese Welt, weil angeblich alle regionalen und kulturellen Unterschiede dem Boden gleichgemacht werden. So entstünden überall die gleichen Wettbewerbsbedingungen. Friedman nutzt indische Lehrer, die englischen Schülern über das Internet Nachhilfe geben, als Beispiel dafür. Der Markt hat die Beschränkungen des Raumes überwunden und beschleunigt die Zeit.

Das Hauptproblem in einer flachen Welt ist, dass der Planet rotiert und die Menschen unterschiedliche Sprachen sprechen. In einigen Gegenden legen sich die Leute schlafen, wenn man in anderen zu Bett geht. Bekanntlich müssen Angestellte in indischen Call-Centers deshalb in Nachtschicht arbeiten, um Anrufe aus den USA oder Großbritannien anzunehmen, und sollen ihren Dialekt unterdrücken. Das Problem mit der lästigen Zeitverschiebung wiederholt sich bei den MOOCs. Viele Nutzer leben in anderen Zeitzonen als die Betreuer, weshalb manche davon wach bleiben müssen, um in Echtzeit miteinander zu sprechen. Werden wir trotzdem eine "Globalisierung der Bildung" erleben?