Demokratie der Besserverdienenden

Der Trend ist eindeutig: Mit der Vertiefung der sozialen Unterschiede in der Gesellschaft verstärken sich auch die Unterschiede im Wählerverhalten. Bild: BertelsmannStiftung

Nach einer Bertelsmannstudie verstärkt sich der Trend, dass sich ganze Schichten und Stadtteile auf Dauer vom demokratischen Prozess entfernen und der Staat zu einer Demokratie der oberen und mittleren Schichten wird

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Falls die Große Koalition zustande kommen sollte, dann dominieren Union und SPD den Bundestag zwar mit einer überwältigenden Mehrheit, repräsentieren aber gerade einmal die Hälfte der Wahlberechtigten. Die Union, die fast die absolute parlamentarische Mehrheit erreicht hätte, repräsentiert nur ein Drittel der Wahlberechtigten, von denen sowieso nur 71,5 Prozent gewählt haben. 6,8 Millionen Zweitstimmen, die an die an der 5-Prozent-Hürde gescheiterten Parteien gingen, wurden zudem nicht berücksichtigt - und 18 Millionen Menschen haben nicht gewählt (Mehr als 15 Prozent der Zweitstimmen verfallen).

Die Zusammensetzung des Parlaments ist überdies nicht repräsentativ für die Bevölkerungsschichten, denn zu den Nichtwählern gehören vor allem die Menschen aus den unteren Schichten, wie nun die Bertelsmann-Studie Prekäre Wahlen -Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 bestätigt.

Das Parlament wird von Abgeordneten beherrscht, die aus den oberen sozialen Schichten, also aus denen kommen, die höhere Einkommen haben. Mit sinkender Wahlbeteiligung und steigender Kluft zwischen Arm und Reich verschieben sich die parlamentarischen Machtverhältnisse zugunsten der reicheren Schichten, denen es natürlich auch um den Erhalt ihres Wohlstands geht, während die Interessen der unteren Schichten zu kurz kommen, weil deren Mitglieder sich selbst von demokratischen Prozessen abklemmen und damit ihren Verliererstatus gewissermaßen bekräftigen.

"Sozial prekär" nennen die Autoren der Studie die Bundestagswahl: "Das soziale Gefälle in der Wahlbeteiligung war enorm: die Differenz zwischen den Stimmbezirken mit der jeweils höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung lag bei 29,5 Prozentpunkten." Analysiert wurde von Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und dem Meinungsforschungsinstitut infratest-dimap die Wahlbeteiligung in 28 Großstädten und 640 Stimmbezirken, die für Deutschland repräsentativ sind. Je ärmer die Bevölkerung eines Stadtteils oder Stimmbezirks ist, desto weniger nimmt sie an den Wahlen teil.

Die Plutokratie findet also auf den ersten Blick durch Selbstausschluss statt. Während der Unterschied bei der Wahlbeteiligung zwischen den Wahlkreisen bei 15,7 Prozent lag, war er bei den Stimmbezirken, in denen die Bevölkerung noch homogener ist, schon bei 30 Prozent.

Hinter der zunehmenden Ungleichheit der Wahlbeteiligung verbirgt sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft. Deutschland ist längst zu einer sozial gespaltenen Demokratie der oberen zwei Drittel unserer Gesellschaft geworden. Die Demokratie wird zu einer exklusive Veranstaltung für Menschen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus der Gesellschaft, während die sozial prekären Milieus deutlich unterrepräsentiert bleiben.

Prekäre Wahlen

In Berlin ist Marzahn-Hellersdorf der Stimmbezirk mit der niedrigsten Wahlbeteiligung (65,1%) gewesen. Und der Hintergrund: "Über die Hälfte der ansässigen Haushalte gehören den ökonomisch schwächeren Milieus an. Das Milieu der Prekären stellt hierbei mit rund einem Viertel der Gesamthaushalte die größte Einzelgruppe dar. Der Anteil der Menschen ohne Schulabschluss ist im Bezirk überdurchschnittlich hoch (knapp 15 Prozent), während gleichzeitig der Anteil potenzieller Akademiker sehr niedrig ist (20 Prozent)." In Steglitz-Zehlendorf, dem Stadtteil mit der höchsten Kaufkraft, gingen hingegen fast 80 Prozent zur Wahl.

Es ist frappierend, wie eindeutig der Schulabschluss, hier der Anteil der Menschen mit Abitur in einem Stadtteil, mit der Wahlbeteiligung zusammenhängt. Bild: BertelsmannStiftung

In München gaben in Milbertshofen-Am Hart 14 Prozent weniger Wahlberechtigte ihre Stimme ab als in Pasing-Obermenzing. Höhere Arbeitslosigkeit, geringerer Bildungsstand, weniger Kaufkraft, mehr Miets- und Hochhäuser, weniger Ein- bis Zweifamilienhäuser sind entscheidende Faktoren, die mit geringerer Wahlbeteiligung korrelieren.

Die Studie macht aber vor allem klar, dass es nicht immer so war, dass aber der Trend zunimmt, dass sich ganze Schichten auf Dauer vom demokratischen Prozess entfernen und der Staat zu einer Demokratie der oberen und mittleren Schichten wird. Seit 1972 hat sich der Unterschied zwischen den Wahlkreisen mit der höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung fast verdreifacht. Lag der Unterschied bei der Wahlbeteiligung zwischen den 10 Prozent aller Wahlreise mit der höchsten und den 10 Prozent mit der niedrigsten Wahlbeteiligung noch bei 5,4 Prozent, so ist er 2013 auf 15,3 Prozent angewachsen.

Am stärksten wirken sich höhere Arbeitslosigkeit und geringere Bildung (Abiturientenquote) auf das Wahlverhalten aus. Die Bebauung eines Viertels und die Kaufkraft haben - auch wenn gilt: "Je höher die Kaufkraft in einem Viertel ist, desto höher fällt auch die Wahlbeteiligung aus" - einen geringeren Einfluss, etwas mehr die Milieus. Arbeitslosigkeit und geringe Bildung schaden der Demokratie, so ein Resümee der Studie.

Die Studie verbindet zur Kennzeichnung von sozialen Schichten Faktoren wie Einkommen, Bildung oder Arbeitslosigkeit mit Profilen zu Werte und Einstellungen, um so 10 Geo-Milieus zu charakterisieren. Zu den unteren drei Milieus, die mit einer geringen Wahlbeteiligung verbunden sind, gehören das

  • "Traditionelle Milieu: Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegs- /Nachkriegsgeneration, die in der alten kleinbürgerlichen Welt und/oder der traditionellen Arbeiterkultur verhaftet ist.
  • Prekäre Milieu: Die um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments, in der soziale Benachteiligungen und geringe Aufstiegsperspektiven eine reaktive Grundhaltung geschaffen haben.
  • Hedonistische Milieu: Die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht/untere Mittelschicht, für die nur das Hier und Jetzt entscheidend ist und die sich den Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft verweigert."

Dem Hedonistischen Milieu werden ebenso wie dem Traditionellen Millieu jeweils 15 Prozent der Bevölkerung zugerechnet, dem Prekären Milieu 9 Prozent. Die Wahlbeteiligung bei den Hedonisten ist die geringste, während sie bei den Liberal-Intellektuellen ("Die aufgeklärte Bildungselite, die von einer liberalen Grundhaltung, dem Wunsch nach selbstbestimmtem Leben und vielfältigen intellektuellen Interessen geprägt wird.") und den Konservativ-Etablierten ("Das klassische Establishment, das sich durch seine Verantwortungs- und Erfolgsethik auszeichnet und sich im Bewusstsein des eigenen Standes abgrenzt.") am höchsten ist.

Sozioökonomische Faktoren beeinflussen zwar stärker als die unterschiedenen Milieus die Wahlbeteiligung, aber nicht ausschließlich, es spielen auch die Lebensstile eine Rolle: "Während traditionelle Grundorientierungen und Werte die Wahlbeteiligung stützen, führen individualistische und experimentell auf Neuorientierung abzielende Grundeinstellungen zu einer eher geringeren Wahlbeteiligung." Es verabschieden sich also nicht nur die unteren Schichten von der Teilnahme an den Wahlen.