Der Mob im Schafspelz?

Wie aufgebrachte Menschenmassen wirklich agieren. Und was die Polizei falsch macht

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Die Welt ist in Aufruhr. Randale und Revolte allerorten, mal während der "Dritten Halbzeit" nach Sportveranstaltungen, mal mit sozialpolitischem Hintergrund bei "Blockupy" oder anderen Protesten ("Eine Gesellschaft mit zum Zerreißen gespannten Nerven, die der Erbitterung und der Wut ausgeliefert ist"). Die Szenerie ist also nicht neu: Aufgebrauchte Meuten liefern sich blutige Straßenschlachten mit der Polizei. Klar, gewaltbegeisterte Individuen gab und gibt es immer wieder. Doch oft lassen sich auch friedliche Demonstranten anstecken und stimmen in den Chor der Gewalt mit ein. Welche Mechanismen sind hier am Werk? Und welche Rolle spielt dabei die Polizei?

"Das Gewaltpotential ist auch in primär friedlichen Menschengruppen stets vorhanden", erklärt Clifford Stott. Der englische Sozialpsychologe forscht an der Universität Leeds und gilt als einer der weltweit führenden Experten für Proteste, gewaltsame Aufstände und die Geheimnisse der Gruppendynamik. Stott hat in den letzten Jahren etliche Mobs untersucht und koordinierte beispielsweise die Sicherheitsvorkehrungen für die Fußball-EM 2012 in Polen und der Ukraine.

Nach Stott basiert die gegenwärtige Polizeiarbeit häufig auf althergebrachten und gänzlich unwissenschaftlichen Annahmen. Teilweise beruhen diese Annahmen noch auf Gustave Le Bons ideologisch gefärbtem Werk Psychologie der Massen aus dem Jahr 1895. Nach Le Bon zeichnen sich Menschenmassen durch eine "Verminderung des Verstandes", eine "Auslöschung der Persönlichkeit" sowie ein "Zurücktreten des Gehirnlebens und ein Vorherrschen des Rückenmarklebens" aus.

Le Bon sieht in solchen Massen also einen "barbarischen" und irrational handelnden Haufen verblendeter Akteure, die dem Herdentrieb und "Kollektivhalluzinationen" unterliegen. Die individuelle Persönlichkeit wird dabei schlichtweg ausgeknipst. Das Bild von besinnungslosen und unkontrollierbaren Meuten, die zu allem fähig sind, ist noch heute in unseren Köpfen präsent – und ein beliebtes Motiv der Medien.

"Massenaufstände werden durch Politiker und Medien geradezu pathologisiert", kritisiert Stott. Auch wenn die Fernsehbilder meist anderes suggerieren: Mobs verhalten sich seiner Meinung nach niemals irrational oder krankhaft: "Mit solch falschen Erklärungsmustern entlassen sich Staat und Polizei schon seit Jahrhunderten aus ihrer Verantwortung. Und ihre ebenso falsche Antwort lautet: Repression", so Stott.

Wie wird aus einer heterogenen Gruppe eine homogene Gemeinschaft?

Der Sozialpsychologe will die Gewalt nicht rechtfertigen, sondern verstehen. Und der Erfolg gibt ihm recht: Das weitgehend gewaltfreie "Sommermärchen" während der Fußball-WM 2006 hätte schnell ein Horrorfilm werden können, wenn nicht die Polizei auf die Grundannahmen des Elaborated Social Identity Model (ESIM) vertraut hätte. Das ESIM, das Stott zusammen mit den Sozialpsychologen Stephen Reicher und John Drury entwickelt hat, versucht, Gruppendynamiken zu erklären:

Stellen Sie sich vor, Sie stehen zur Feierabendzeit an einer überfüllten Supermarktkasse. Sie haben mit den anderen Wartenden nichts gemein, Sie haben vielleicht Hunger und wollen schleunigst nach Hause. Doch dann erblicken Sie durch das Schaufenster eine Gruppe Jugendlicher, die Fahrräder klaut und mutwillig den Lack der geparkten Autos zerkratzt. Von einem Moment auf den anderen solidarisieren Sie sich mit den anderen Kunden, stürmen aus dem Supermarkt und stellen die Täter – die wartenden Kunden haben automatisch eine gemeinsame "soziale Identität" entwickelt und sehen in der Gruppe der Jugendlichen einen "Gegner" ihrer eigenen Interessengruppe: "Wir hier – ihr da."

Bei der Supermarktschlange kann es freilich auch passieren, dass die Menschen die Situation bewusst ignorieren und darauf warten, dass jemand den ersten Stein wirft. Dazu kann es bei einer Demonstration noch viel eher kommen, weil die Menschen hier bewusst mit dem Ziel auf die Straße gehen, um einen gemeinsamen Willen zu formulieren.

Doch ein solcher Mob verhält sich nicht barbarisch, wie Le Bon, Medien und Politik behaupten, sondern stets nach bestimmten Mustern: Individuen, die sich in einer Menschengruppe befinden, denken für sich. Das heißt, sie haben individuelle Gedanken und Emotionen. Allerdings vollführen sie sozusagen an der Spitze ihres individuellen Eisbergs einen Wechsel hin zur sozialen Identität, die jeweils alle anderen Individuen der Gruppe einschließt.

Wenn diese Ansammlung nun undifferenziert von der Polizei attackiert wird – etwa durch Wasserwerfer, Tränengas oder den ziellosen Einsatz von Gummiknüppeln oder sogar Schusswaffen –, dann hat die Gruppe einen gemeinsamen Gegner, und das Gefühl der sozialen Identität verstärkt sich. Der immer noch für sich denkende Einzelne solidarisiert sich mit der Gruppe und fühlt sich ihr zugehörig. Und wenn sich diese Gruppe von der Polizei bedroht fühlt, dann setzt sie sich gewaltsam zur Wehr. Selbst ein friedlicher Außenstehender vermag dann zu denken: "Die Polizei greift uns willkürlich und brutal an, ich muss meinen Mitmenschen zur Seite stehen."

Reagiert die Polizei dann undifferenziert und unangemessen auf die Protestierenden – mit Wasserwerfern, Tränengas oder Einkesselungen –, so geschieht genau das, was mit den Kunden im Supermarkt passiert: Die einzelnen Individuen fühlen sich als zusammenhängende Interessengruppe bedroht und verstärken folglich ihre soziale Identität: "Sobald die Polizei wahllos gegen die Menge vorgeht, bildet sich aus einer heterogenen Gruppe eine homogene Gemeinschaft. Wir gegen die, heißt es dann", so Clifford Stott.

Polizisten sollten dem Sozialpsychologen zufolge also nicht die Ansammlung als solche attackieren, sondern gezielt diejenigen aus der Menge herausfischen, die in kriminelle Handlungen verwickelt sind. Werden unschuldige und friedliche Demonstranten verhaftet oder gar verletzt, kann die Lage jeden Augenblick umkippen und die Gewalt eskalieren.

Menschenmassen handeln rational, wenn auch die Polizei rational handelt

Stott betont, dass man bei Einzeltätern durchgreifen müsse, während bei Menschengruppen der Dialog das A und O sei. Das mag pathetisch klingen, habe sich in der Praxis aber bewährt. Unbewaffnete Deeskalationsteams, Streetworker und beschwichtigende Lautsprecherdurchsagen bringen Stott zufolge weit mehr als eine knüppelschwingende Phalanx von Polizisten.

Seine Forschungsergebnisse rund um das EMIS zeigen, dass Menschenmassen rational handeln, wenn die Polizei selbst ebenso rational handelt. Daher trage die Polizei häufig die Hauptschuld, wenn Hooligans oder aufgebrachte Mobs ganze Innenstädte auf links drehen oder Aufstände eskalieren. Wenn die Polizei schon im vornherein davon ausgeht, dass die Massen gewaltbereit sind, dann tritt sie entsprechend auf und schürt somit das Gewaltpotential – das polizeiliche Säbelrasseln führt zu einer gefährlichen "Self-Fulfilling Prophecy".

Besonders heikel wird die Situation immer dann, wenn die Ordnungshüter schon vor den Aufständen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Dafür gibt es zahllose Beispiele: Im August 2011 erschossen Polizisten in Tottenham den Drogendealer Mark Duggan (Die traurige Wahrheit der Riots=; im März 2013 töteten Polizisten in New York den 16-jährigen Kimani Gray mit elf Schüssen (New Yorker Polizei erklärt Brooklyner Stadtteil zur "Frozen Zone"). Beide Male kam es zu massiven Unruhen, die weltweit Schlagzeilen machten. Die beteiligten Mobs hatten sich in ihrer sozialen Identität als moralisch legitime Robin Hoods der Gesellschaft verstanden – zumal Duggan und Gray in den Augen der Demonstranten "ihre Leute" waren.

Das New Yorker "Stop-and-Frisk Programm", bei dem Passanten willkürlich angehalten und gefilzt werden, befeuerte solche Gewaltausbrüche zusätzlich, weil sie zu nachvollziehbaren Misstrauen gegenüber der Polizei führen. Ähnliches gilt für das "Racial Profiling", wie es in England, aber derzeit auch in Hamburg und anderen deutschen Städten praktiziert wird: Das wahllose Verdächtigen und Filzen von Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe schürt immense Wut gegen die Ordnungshüter. Solange die Polizei mit diesen Praktiken im Alltag und bei Demonstrationen fortfährt, solange wird sie Stott zufolge auch Krawalle provozieren.