"Unterschied zwischen pluralistischen Gesellschaften und totalitären Regimen"

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erlaubt die Meinungsäußerung, dass die massenhafte Tötung von Armeniern im Ersten Weltkrieg kein Völkermord gewesen sei

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist einer Klage des türkischen Politikers Doğu Perinçek gefolgt und hat entschieden, dass seine in der Schweiz erfolgte Verurteilung zu einer bedingten Geldstrafe gegen das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährte Recht auf freie Meinungsäußerung verstößt. Der Linksnationalist hatte 2005 verlautbart, dass das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg einen Völkermord an den Armeniern verübt habe, sei eine "internationale Lüge". Dafür hatte ihn die schweizerisches Justiz in zwei Instanzen der Rassendiskriminierung für schuldig befunden.

Mittlerweile ist relativ unstrittig, dass während des Ersten Weltkrieges eine enorm große Zahl von Armeniern und Assyrern bei Deportationen ums Leben kam - sowohl durch direkte Gewaltausübung als auch durch Hunger, Durst und Erschöpfung. Allerdings verweisen Kritiker des Völkermord-Begriffs wie Guenter Lewy darauf, dass das Osmanische Reich nicht einmal logistisch dazu in der Lage war, seine eigenen Soldaten zu versorgen, sodass diese ebenfalls in großer Zahl verhungerten. Umstritten ist auch, inwieweit die Tötungen tatsächlich von der Führung des Osmanischen Reiches geplant und inwieweit sie die Eigeninitiative der kurdischen Ağas waren, die sich auf diese Weise Land, Eigentum und Frauen aneigneten.

Siedlungsgebiete der Armenier. Rot: Heute. Braun: Bis 1914 über 50 Prozent Bevölkerungsanteil. Orange: Bis 1914 25 bis 50 Prozent Bevölkerungsanteil. Gelb: Bis 1914 weniger als 25 Prozent Bevölkerungsanteil. Karte: Yerevanci. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

In Briefen deutscher Diplomaten werden Teile der damaligen politischen Führung des Osmanischen Reiches zitiert, die im Gespräch offen zugaben, dass die "Verbannung" das Ziel habe, "die Armenier zu vernichten". Auch Ingenieure, Militärs und andere damals im Orient lebende Europäer und Amerikaner äußerten immer wieder die Überzeugung, dass das von der osmanischen Regierung angeführte Argument, man würde die Armenier lediglich aus militärischen Gründen aus Anatolien deportieren, unter anderem deshalb ein Vorwand sei, weil es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass man sich um so etwas wie eine Versorgung mit Lebensmitteln überhaupt Gedanken machte und die Deportationsziele teilweise deutlich näher an der Front lagen als die Herkunftsgebiete.

Vorhaben wie das des Gouverneurs von Aleppo, wenigstens provisorische Unterkünfte für die Deportierten zu errichten, lehnte das von Talaat Pascha geführte Innenministerium ebenso ab wie Hilfsleistungsangebote aus befreundeten und neutralen Ländern. Als dies Helfer schließlich doch einmal schafften, empfingen sie die armenischen Frauen mit den Worten, sie sollten ihnen lieber Gift statt Brot bringen, damit das Elend schneller ein Ende habe. Tatsächlich, so der angesichts solcher Erlebnisse geäußerte Verdacht vieler Zeitzeugen, handelte es sich bei den angeblichen Deportationen um absichtlich angeordnete Todesmärsche, bei denen die nicht nur von der Jungtürken-Bewegung als Fremde im Volkskörper empfundenen Armenier durch Hunger und Erschöpfung getötet werden sollten.

Deutscher Militärs und Politiker verbaten sich damals ein Einschreiten gegen das Treiben immer wieder mit dem Verweis darauf, dass man den Bündnispartner noch brauche und ihn deshalb nicht vor den Kopf stoßen dürfe. Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg fasste diese Haltung in dem bemerkenswert offenen Satz zusammen, es sei das "einzige Ziel" der Reichsregierung, "die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht."

Tote Armenier am Rande der Deportationsstrecke

Perinçek ist trotz dieser Anhaltspunkte für das Vorliegen einer absichtlichen Vernichtung möglichst vieler Armenier der Meinung, dass die Katastrophe nicht staatlich geplant war. Deshalb machte er nach seiner Verurteilung in der Schweiz vor dem EGMR eine unbillige Einschränkung seiner Meinungsfreiheit geltend. Der veröffentlichte am Dienstag sein Urteil, nach dem trotz der provozierenden Formulierung des Politikers kein Missbrauch von Grundrechten im Sinne des Artikels 17 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt, weil Artikel 10 auch "kränkende", "schockierende" oder "verstörende" Meinungen schützt.

Die beiden eidgenössischen Gerichte hatten nach Ansicht des EMGR nicht ausreichend geprüft, ob Perinçek mit seiner Äußerung wirklich "Hass oder Gewalt" befördern wollte. Dagegen spricht ihrer Ansicht nach, dass er sich nur zu historischen Vorgängen und nicht verächtlich über heute lebende Armenier als Volksgruppe äußerte. Außerdem habe er nicht die Massentötung von Armeniern als Tatsache bestritten, sondern nur, dass dahinter ein Ausrottungsplan steckte. Aus diesem Grund sei sein Fall auch nicht mit denen prominenter Holocaustleugner vergleichbar.

Außerdem hatten die schweizerischen Richter nach Meinung ihrer Straßburger Kollegen bei der Abwägung zwischen den vom Rassendiskriminierungsartikel geschützten Rechtsgütern und der Meinungsfreiheit nicht ausreichend auf den Zweck der Verbotsvorschrift abgestellt und antizipiert, ob im Falle eines Freispruchs wirklich eine Störung der öffentlichen Ordnung oder schwere negative Folgen für heute lebende Armenier gedroht hätten. Außerdem hätten sie sich fragen müssen, welche Folgen die Verurteilung auf Personen haben könnte, die sich nach einen Schuldspruch ihre Meinung möglicherweise nicht mehr offen zu sagen trauen. Solch eine Prüfung ist dem EGMR nach unter anderem deshalb sehr wichtig, "weil es die freie Ausübung des Rechts ist, kontroverse und heikle Fragen offen zu diskutieren, die eine tolerante und pluralistische demokratische Gesellschaft von einem totalitären oder diktatorischen Regime unterscheidet".

Abschließend stellten die Straßburger Richter fest, dass bei Weitem nicht alle Staaten, die den Massenmord an den Armeniern offiziell als Völkermord werten, das Vertreten einer anderen Meinung mit Geld- oder Gefängnisstrafen bedrohen. Es sei deshalb nicht notwendig, eine diplomatische oder als richtig gewertete Position an eine Verbotsvorschrift im Strafrecht zu koppeln.

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