Sinkende Reallöhne - steigende Armut

Grafik: Armutsbericht

Die Armutsquote erreicht ein neues Rekordhoch - die regionalen Unterschiede werden dramatischer

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Steigende Beschäftigungszahlen, steigende Löhne, steigender Wohlstand: die schwarz-gelbe Bundesregierung war in den letzten vier Jahren ausgiebig damit beschäftigt, die sozialen Verhältnisse in Deutschland zu preisen und sich selbst für das angeblich Erreichte zu loben. Doch die Realität sieht anders aus: ein neuer Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Nationalen Armutskonferenz zeigt, dass die Armutsquote einen neuen Rekordstand erreicht hat. Und auch die regionalen Unterschiede werden immer größer – Deutschland ist gespalten.

Einkommensverluste statt steigender Löhne – die Zahlen, die das Statistische Bundesamt für das dritte Quartal 2013 veröffentlicht hat, sind alles andere als die Erfolgsstory, von der die vergangene Bundesregierung so gerne sprach. Um 0,3 Prozent sanken die Reallöhne im vergangenen Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Auch für das Gesamtjahr rechnen die Statistiker mit sinkenden Reallöhnen.

Und auch in der Gesamtschau stehen die Menschen in der Bundesrepublik keinesfalls so gut da, wie die Bundesregierung in ihrem geschönten Armuts- und Reichtumsbericht behauptet hat [Liberale Verklärung]. Ein aktueller Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Nationalen Armutskonferenz warnt. Seit 2006 sei die Armutsquote von 14 auf 15,2 Prozent gestiegen. Positive Entwicklungen in Thüringen oder Brandenburg seien mittlerweile zum Stehen gekommen oder würden sich sogar umkehren. Zu diesem Schluss kommen die Autoren des Berichtes nach einer Auswertung von Daten aus dem Mikrozensus, für den jährlich 1 Prozent aller Haushalte in Deutschland befragt wird. Als arm bezeichnet der Bericht dabei Personen, die in Haushalten leben, welche weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in Deutschland erhalten. Im Jahr 2012 lag diese Schwelle für einen Single bei 869 Euro, für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1.826 Euro.

Besonders bemerkenswert ist die Entwicklung des Jahres 2011. Damals wuchs die Wirtschaft um 3,9 Prozent, während die Arbeitslosigkeit von 7,7 auf 7,1 Prozent sank. Parallel dazu stieg die Armutsquote jedoch deutlich an: von 14.5 auf 15,1 Prozent. Für den Paritätischen Wohlfahrtsverband ein deutlicher Hinweis auf Niedriglöhne und die Amerikanisierung des Arbeitsmarktes. Die auf den ersten Blick so positiven Arbeitsmarktstatistiken sind demnach nur möglich, weil gleichzeitig die Zahl der "working poor" zunimmt.

Im Jahr 2012 war das Wirtschaftswachstum mit 0,9 Prozent deutlich schwächer, und auch die Arbeitslosigkeit nahm gegenüber 2011 nur leicht ab. In dieser Situation wäre ein erneuter deutlicher Anstieg der Armutsquote zu erwarten gewesen, so der Armutsbericht. Tatsächlich stieg die Quote nur um 0,1 Prozentpunkte. Die Entwicklung der Armut habe sich endgültig von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt, wobei die Armutsquote tendenziell deutlich steige, so die Schlussfolgerung der Autoren.

Ganze Regionen sind in "dramatische Abwärtsspiralen" geraten

Der Vergleich zwischen den Bundesländern zeigt: Die Abstände zwischen den wohlhabenderen und den ärmeren Gegenden der Republik wachsen. So ist die Armutsquote in den beiden reichsten Bundesländern im Jahr 2012 im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken – und zwar um je 0,1 Prozentpunkt in Baden-Württemberg (11,1 Prozent) und Bayern (11,2 Prozent). Gleichzeitig stieg aber die Armutsquote gerade in den ärmsten Bundesländern weiter an. So kletterte die Quote beim Schlusslicht Bremen auf 23,1 Prozent (2011: 22,3), in Mecklenburg-Vorpommern auf 22,9 Prozent (22,2) und in Berlin auf 21,2 Prozent (21,1). Am stärksten stieg die Armutsquote in Brandenburg – von 16,9 Prozent in 2011 auf 18,3 Prozent in 2012.

Gesunken ist die Armutsquote lediglich in vier Bundesländern. Neben den Spitzenreitern Bayern und Baden-Württemberg konnten sich lediglich Rheinland-Pfalz und Sachsen verbessern. Nordrhein-Westfalen hat sich mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im Vergleich zu 2011 nicht verändert. In 11 von 16 Bundesländern nahm die Armutsquote hingegen zu.

Bedenklich ist auch der Abstand zwischen dem Spitzenreiter Baden-Württemberg und dem Schlusslicht Bremen. Er beträgt immerhin 12 Prozentpunkte. Die Armutsquote ist in Bremen damit mehr als doppelt so hoch wie in Baden-Württemberg. In 2011 lag der Abstand noch bei 11,1 Prozentpunkten. Damit geht ein Trend zu Ende: Zwischen 2007 und 2011 nahm die Ungleichheit zwischen den Bundesländern langsam ab. Nun steigen die Ungleichheiten wieder an.

Dieser negative Trend ist auch im Hinblick auf einzelne Bundesländer zu beobachten. Länder wie Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Brandenburg, die lange Zeit eine sinkende Armutsquote verzeichnen konnten, machen jetzt mit teils deutlich steigenden Quoten von sich reden.

Gebremst wurde der Anstieg der Armut jedoch in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Allerdings gilt dieser positive Trend nicht für ganz NRW: das Ruhrgebiet zeichne sich durch eine "ungebremste Armutsentwicklung" aus, so der Bericht. Zwischen 2006 und 2012 stieg die Armutsquote im Ruhrgebiet von 15,8 auf 19,2 Prozent. Der Abstand zum NRW-Durchschnitt betrug damit zuletzt 2,6 Prozentpunkte. Besonders dramatisch sei die dortige Entwicklung, weil das Ruhrgebiet mit 5 Millionen Einwohnern das größte Ballungsgebiet Deutschlands sei.

Die Autoren des Armutsberichts folgern, dass derzeit ganze Regionen in "dramatische Abwärtsspiralen" geraten – oder bereits mittendrin sind. Ein Problem sei, dass insbesondere dort, wo die Menschen besonders auf die öffentliche Infrastruktur angewiesen seien, diese aus Kostengründen immer mehr zurückgefahren wird. Um den Trend zu stoppen, sei "massive finanzielle Unterstützung von außen" notwendig. In Zeiten, in denen sich von Union über SPD bis hin zu den Grünen alle Parteien einer "Schuldenbremse" verschrieben haben, die Investitionen erschwert, scheint diese Lösung jedoch weit entfernt.

Besonders heftig, so prognostiziert der Bericht, wird die Schuldenbremse Bremen und das Saarland treffen. Diese Länder müssten zwischen 20 und 25 Prozent ihres Haushaltes zusammenstreichen, um die Kriterien der Schuldenbremse einhalten zu können. In der Folge dürfte die Kluft zwischen den Bundesländern auch in den kommenden Jahren weiter wachsen.

Die Lösung liegt laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Nationalen Armutskonferenz auf der Hand: Mindestlöhne und eine höhere Besteuerung für große Vermögen und Einkommen könnten helfen, die soziale Schere zu schließen. Doch diesen Maßnahmen hat die SPD mehr oder weniger offen eine Absage erteilt, um am Koalitionstisch Platz nehmen zu können.