Das Fabrikat "Große Koalition"

Das Merkelland. Eine politische Besichtigung - Teil 1

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Eines steht fest: Es muss regiert werden, sonst gäbe es den Staat nicht mehr. Und auf irgendeine Weise muss eine Regierung in ihr Amt kommen. Da die Bundesrepublik laut Verfassung sich als Demokratie versteht, hat das Volk zu entscheiden, von wem es regiert werden will. Zu diesem Zweck finden Wahlen statt, bei denen die Bürgerinnen und Bürger mit gleichem Gewicht ihrer Stimme tätig werden sollen, die Teilnahme ist hierzulande freiwillig.

Es geht repräsentativ zu, das heißt auch: Das Volk wählt nicht eine Regierung, sondern VertreterInnen, die dann erst einmal eine Kanzlerin oder einen Kanzler ins Amt bringen, und diese Person beruft Ministerinnen und Minister, außerdem bestimmt sie, so will es das Grundgesetz, die "Richtlinien" der Politik. Die Regierung kann allerdings nicht einfach machen, was sie will, bei Gesetzen ist das Parlament zuständig, die Vertretung des Volkes hat diese zu beschließen. Als vermittelnde Organe wirken bei alledem die Parteien. Geht irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu, greifen Verfassungsrichter ein. So das bundesrepublikanische Grundmuster von Demokratie.

Dieses Verfahren scheint auf den ersten Blick übersichtlich zu sein, auch unproblematisch. Und es hat bisher immer funktioniert, auch jetzt wieder, bei der Bildung der regierenden Großen Koalition. Im internationalen Vergleich steht die Bundesrepublik als ein Staat da, dessen Regierungsweise ungewöhnlich stabil ist. Allerdings liegt darin noch keine Garantie für die zukünftige Entwicklung. Die Stabilität des hiesigen Politiksystems hat eine historische Voraussetzung: Wirtschaftliche Prosperität, nur gelegentlich ein wenig gestört, und daraus resultierend ein nur geringes Maß an sozialen Turbulenzen.

Aber die Geschichte geht weiter, und nicht einmal Angela Merkel, der Ängstlichkeit nicht nachzusagen ist, würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass die Bundesrepublik auf Dauer ihren Vorzugsplatz im Euroverbund und im Weltmarkt behält. Jetzt schon breiten sich auch in der deutschen Gesellschaft prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse aus, der Tendenz nach steigend. Das hat auch immer größere Lücken in der Altersversorgung der nachwachsenden Generation zur Folge. Für immer mehr Menschen in der Bundesrepublik sind die materiellen Schönwetterzeiten vorüber. Selbstverständlich hat dieser Trend politische Effekte.

Damit kommen das Wahl- und Regierungssystem sowie der Parteienbetrieb in den Blick. Sind sie eingestellt auf problemlösendes Verhalten unter bedrängenden Bedingungen in der politischen Umwelt?

Wahlteilnahme als Privileg

Die Bertelsmann-Stiftung, sonst nicht gerade durch Zweifel an deutschen Politikverhältnissen geplagt, hat jüngst ein "besorgniserregendes" Ergebnis ihrer empirischen Forschungen gemeldet, in Auswertung der jüngsten Bundestagswahl: Das Prekariat zieht sich aus dem Wahlakt zurück. Die Wahlbeteiligung polarisiert sich sozial; in Armutsvierteln der Städte liegt sie sehr niedrig, in Quartieren der Wohlsituierten sehr hoch. Der Grund dafür ist nicht, dass den sogenannten "Sozialschwachen" die Fähigkeit fehlen würde, einen Stimmzettel auszufüllen. Sie setzen vielmehr in die Parteien, in das Parlament und in die Regierung nicht das Vertrauen, diese wollten oder könnten an der Spaltung der deutschen Gesellschaft etwas ändern.

Wir befinden uns also, was die politische Praxis angeht, auf dem Weg zurück in eine "Besitz-Demokratie", in der politische Partizipation von der Klassenzugehörigkeit abhängig ist. In preußischen Zeiten war dies einst per Wahlrecht geregelt, Stimmen der vielen Armen hatten kein Gewicht gegenüber denen der wenigen Reichen. Diese Methode, das niedere Volk politisch kurz zu halten, ist heutzutage selbstverständlich nicht mehr brauchbar; Herrschaft von Eliten muss nicht mehr durch äußeren Zwang hergestellt werden, sie bildet sich, wie die Wissenschaft es so nett ausdrückt, "systemisch" heraus.

Im Wahlkampf für den jetzt tätigen Bundestag schien es fast so, als käme eine gegenläufige Dynamik in Gang. Die SPD und auch die Grünen stellten die "Soziale Frage" in den Mittelpunkt ihrer programmatischen Auftritte, "Umverteilung von oben nach unten" wurde proklamiert; auch di Steuerpolitik, so hieß es, sollte auf dieses Ziel ausgerichtet werden. Diese Botschaften waren adressiert an bisherige "Wahlverweigerer". Die allerdings ließen sich dadurch kaum zur Stimmabgabe animieren; offenbar blieben sie skeptisch gegenüber Versprechungen von Parteien, die im bestehenden Politiksystem etabliert sind oder - wie die Linkspartei - in diesem "ankommen" möchten.

Hinzu kam, dass Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat den versprochenen gesellschaftspolitischen "Kurswechsel" nicht glaubwürdig verkörpern konnte. In der Rolle des "Anwalts der Armen" oder der von Armut Bedrohten war er eine Fehlbesetzung. Seine Kandidatur entstammte nicht einer "sozialen Bewegung", auf die sich Sozialdemokraten und Grüne eingelassen hätten, sondern dem personaltaktischen Entschluss einer Parteiführung.

Die "Beteiligungspartei" - eine Simulation

Nach der Bundestagswahl war im Parteiengeschäft die "Wende" hin zur "solidarischen Gesellschaft", mitsamt der Hinwendung zum politikverdrossenen Teil des Volkes, rasch wieder vergessen. Nun ging es um Beteiligung an der Regierung, sofort oder künftig, um die dafür geeignete "Aufstellung" in der Parteien-Familie . Wahlprogramme werden herrschender Gewohnheit nach am Tag nach dem Urnengang ungeniert entsorgt, als Maßstäbe für die Verabredung von Regierungskoalitionen sind sie nicht in Gebrauch.

Die Spitzenkräfte der SPD entschlossen sich diesmal ohne Zögern zur Koalition mit der CDU/CSU, die Grünen begaben sich in den Wartestand für ein Regierungsbündnis mit den Unionsparteien; diese beiden strategischen Orientierungen kamen zustande ohne dass eine Debatte im "Wahlvolk" vorweg gegangen wäre. Der "Souverän" war nach der Wahl wieder von seinen Mühen freigestellt. Allerdings wollte die Führung der SPD ihre Basis in die Regierung "mitnehmen", und zu diesem Zweck veranstaltete sie einen Mitgliederentscheid - über den bereits ausgehandelten Koalitionsvertrag. Das war ein nicht ganz risikofreier, aber doch sehr erfolgversprechender Coup. Zu prüfen waren nicht die Details des Vertrags mit seinen 185 Seiten, tatsächlich zu entscheiden hatten die Mitglieder, ob sie ihrem Vorstand die Gefolgschaft verweigern wollten; der hatte in diesem Fall seinen Rücktritt und damit ein Desaster der Partei insgesamt angedroht. Wie kalkuliert kam es zum mehrheitlichen Ja, und die SPD kann sich nun preisen als "neues Modell der Parteiendemokratie", als "Beteiligungspartei". Hat die Sozialdemokratie mit ihrer innerparteilichen Abstimmung "Demokratiegeschichte gemacht", wie ihr Vorsitzender, jetzt Vizekanzler, jubelnd behauptete?

Der Mitgliederentscheid bedeutet keineswegs einen Schritt hin zur plebiszitären Auffrischung eines müde gewordenen repräsentativen Politiksystems. Eine innerparteiliche Abstimmung in dieser Machart simuliert vielmehr Entscheidung "unten"; das SPD-Verfahren enthielt keine regierungs- oder oppositionspolitischen Alternativen, zwischen denen die Stimmabgeber hätten wählen können.