Die Parteien - nicht oppositionsfähig

Das Merkelland. Eine politische Besichtigung - Teil 2

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In einem demokratischen Staat, so belehren uns Politiker und Politikwissenschaftler, müsse jede Partei mit jeder anderen koalitionsfähig sein. Zumindest jede demokratische. Ein solcher Zustand ist in der Bundesrepublik weitgehend erreicht. CDU, CSU, SPD und Grüne haben allesamt keine Schwierigkeiten mehr damit, Regierungsbündnisse untereinander zu schließen. Die FDP spielt dabei mit, auch auf der Ebene der Bundespolitik, falls sie diese wieder betreten darf. Die "Alternative für Deutschland" würde sich nicht anders verhalten. Die Linkspartei ist aus der Sicht von SPD und Grünen demnächst wahrscheinlich ebenfalls auch für bundespolitische Koalitionen geeignet, sie muss nur noch von ihrer Antipathie gegen die NATO abkommen.

Diese allgemeine Bereitschaft zu einem gemeinsamen Regieren scheint erst einmal erfreulich zu sein - keine Verfeindung zwischen den parteipolitischen Akteuren, keine kalten Kriege mehr in der deutschen Parteienlandschaft, die "Zerrissenheit" im Parteiensystem, der man den Untergang der Weimarer Republik zuzuschreiben pflegt, kehrt nicht wieder.

Polemik zwischen den Parteien wird nur zu Wahlzwecken in Szene gesetzt, das Wahlvolk weiß schon, ernst ist sie nicht gemeint; danach fallen sich die Konkurrenten ganz sportlich wieder in die Arme. Und darin unterscheidet sich die Bundesrepublik angenehm von manchem anderen Staat, in dem Parteien nachhaltig gegeneinander wüten, selbst in den USA kommt so etwas vor... Der Schein trügt, in diesem Bild von Harmonie stecken Tücken

Der Grundsatz vom "Mist" in der Politik

Ein ehemaliger Vorsitzender der SPD, bekannt für seine volkstümliche Sprache, hat einen Grundsatz formuliert, der sich in den Köpfen von Politprofis festgesetzt hat: Opposition sei "Mist".

Die Aussage ist abwertend gemeint, worin ein sprachlicher Irrtum liegt, denn das erwähnte Naturprodukt hat doch produktive Eigenschaften. Übersetzen wir also: Gemeint ist, Einflussnahme auf die gesellschaftspolitische Entwicklung, "Gestaltung" durch politisches Handeln sei nur möglich aus einer regierenden oder mitregierenden Funktion heraus. Eine Partei oder parlamentarische Fraktion, die sich längerfristig auf den Status als Opposition einstelle, versetze sich selbst in politische Ohnmacht.

Aus dem Munde eines Sozialdemokraten klingt ein solcher Grundsatz seltsam; er lässt sich nicht in Übereinstimmung bringen mit der Geschichte dieser Partei. Ihre historische Kraft erreichte sie als fundamentale Opposition in wilhelminischen Zeiten. Soziale Zugeständnisse an die Unterschichten machte der deutsche Staat damals, weil er einer oppositionellen Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln nehmen wollte, was nicht gelang.

Langfristigen Schaden fügte die Partei sich selbst und der Arbeiterbewegung insgesamt zu, als sie 1914 gegen die Kriegspolitik nicht opponierte. Nach dem Untergang des "Dritten Reiches", in der Adenauerära der Altbundesrepublik, erzeugte die SPD aus der langjährigen Opposition heraus erhebliche Effekte auf die soziale Ausgestaltung des westdeutschen Staates.

Gegen diese Hinweise auf die Wirkung von Opposition lässt sich der Einwand machen, in jenen historischen Konstellationen seien strukturelle gesellschaftliche Probleme und Konflikte bestimmend gewesen. Bestehen solche für die Politik heute nicht? Oder wollen die Politiker sie nur nicht zur Kenntnis nehmen?

Die TINA-Legende

"Da gibt es keine Alternative" - pflegt die Bundeskanzlerin zu sagen, indem sie politische Weichen stellt. Für diese Maxime hat sie bei den Politikern viel praktische Beihilfe gefunden.

Wenn in der Politik der "Sachzwang" herrscht, hat in der Tat parteipolitische und parlamentarische Opposition keinen tieferen Sinn, dann kommt es vielmehr darauf an, regierend die unvermeidlichen und vorgegebenen Notwendigkeiten möglichst geschickt zu exekutieren. Eine opponierende Partei hat unter solchen Umständen lediglich die Rolle, Ersatzpersonal für Regierungsfunktionen bereitzustellen, Konzepte für eine bessere Umsetzung der "Sachzwänge" im Detail anzubieten.

Am aktuellen Beispiel: Warum die künstlichen Erregungen im Wahlkampf zum Bundestag 2013? Das neue großkoalitionäre Kabinett hat sich doch ohne Streit zusammenstellen lassen, mit den Grünen als Juniorpartner der Union wäre es nicht anders gewesen. Ein schlichtes Gemüt könnte annehmen, man hätte sich die ganze Wahl ersparen können, wenn die Freidemokraten freiwillig in Urlaub gegangen und die Sozialdemokraten mit den Grünen handelseinig geworden wären: Wir wechseln uns als Partner für die CDU/CSU ab, so kommen wir beide zum Zuge.

Nun hat aber Angela Merkel, als sie die Große Koalition vorstellte, von großen Aufgaben gesprochen, die zu bewältigen seien. Aber wie? Offenbar soll dabei weiterhin gelten: "There is no alternative", die politischen Linien sind ja schon in den vorhergehenden Regierungszeiten eingezeichnet Worden. Das betrifft die Europapolitik, den untertänigen Umgang mit dem internationalen Finanz-"Markt" und die Pflege der unternehmerischen Interessen am "Standort Deutschland" mittels Sozialdumping. Bei diesen Themen besteht seit dem Kabinett Gerhard Schröder eine informelle Große Koalition, ebenso in Sachen deutscher weltweiter Militärpolitik.

Vor der Wahl bereits war auch klar, dass weder die Unionsparteien noch die SPD den Widerstand gegen die angelsächsische Leidenschaft zum Zugriff auf fremde Daten versuchen wollen, und die Neigung zum "Sicherheitsstaat" ist allen Partnern der Großen Koalition zu eigen. Die Grünen sind bei alledem keine entschiedenen Gegner; die Linkspartei weiß noch nicht so recht, inwieweit sie wirklich opponieren will.

Insofern trifft zu: Da gibt es keine Alternative. Aber diese Feststellung gilt für die Vorstellungswelt der deutschen Parteien, damit noch nicht für den realen Raum politischer Entscheidungsmöglichkeiten.

Wählen ohne Wahl?

Wenn wir vorsorglich einmal annehmen, dass auch die Bundesrepublik zunehmend unter Problemdruck gerät, dann wird die Abwesenheit von einigermaßen weitreichenden Alternativkonzepten im parteipolitischen Diskurs zum Demokratieverlust. Das Recht zur politischen Wahl hat seine Bedeutung darin, dass Bürgerinnen und Bürger sich mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Entwürfen der gesellschaftlichen Zukunft auseinandersetzen und zwischen diesen entscheiden können. Die Chance, die einen oder die anderen Bewerber für ein in den Grundlinien identisches Regierungshandeln in Stellung zu bringen, bietet dafür keine Kompensation.

Wählen ohne inhaltliche Alternativen, nur als Teilnahme an der Vorbereitung von Regierungs-"Mannschaften", ist interessant für diejenigen, die einen bisherigen Kurs der Politik fortsetzen, die bestehenden Machtverhältnisse festigen wollen. Wer dies nicht beabsichtigt, kann seine Stimme auch bei sich behalten. Es sei denn, er sieht im Vorgang der Wahl und der Regierungsbildung wenigstens Unterhaltungswert - ohne politische Substanz.

Teil 3: Die "Vierte Gewalt" - konformistisch.

Dr. Arno Klönne, em. Professor für Sozialwissenschaften, Buchveröffentlichungen u.a. über die Sozialstruktur der Bundesrepublik, das "Dritte Reich" und die Geschichte der Arbeiterbewegung. Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky".