Südeuropa ist überall

Längst werden auch nördliche Eurostaaten von derselben Krisendynamik erfasst, die bereits Südeuropa heimgesucht hat

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Die Krise in Europa wird hierzulande gemeinhin in der südlichen Peripherie der Eurozone verortet. Mittels der üblichen Vorurteile, die den Südeuropäern Faulheit oder übermäßige Korruptionsanfälligkeit andichten (Krisenmythos Griechenland), wird die Eurokrise auf eine imaginierte "Kultur des Schlendrians" in Südeuropa zurückgeführt. Zu dumm nur, dass diese ressentimentgeladene Wahrnehmung des Krisengeschehens sich immer stärker an der Realität blamiert - denn längst sind es auch nördliche Eurostaaten, am Rande einer ausgewachsenen Wirtschaftskrise stehen.

Nördlicher als etwa nach Finnland, das sich in einer langwierigen Rezession befindet, kann die Eurokrise kaum wandern. Vor wenigen Tagen musste die finnische Notenbank ihre Konjunkturprognosen für das einstige Wirtschaftswunderland abermals nach unten korrigieren. Das finnische Bruttoinlandsprodukt wird demnach in diesem Jahr um 1,0 Prozent schrumpfen. In Juni gingen Finnlands Notenbanker noch von einer geringeren Kontraktion von 0,8 Prozent für 2013 aus. Zudem sind auch die Wachstumsaussichten für 2014 abgesenkt worden: von 0,7 Prozent auf 0,6 Prozent.

Finnland im Double Dip

Damit setzt sich beim einstigen wirtschaftlichen Musterschüler die lang anhaltende Periode aus Stagnation und Rezession fort, die Finnland seit Krisenausbruch 2008 eine klassische Double-Dip-Rezession bescherte: Nach dem ersten Wirtschaftseinbruch 2008 folgte eine kurze Periode anämischen Wachstums, die dann abermals von der bis heute anhaltenden Kontraktion abgelöst wurde. Finnlands Bruttoinlandprodukt liegt somit immer noch gut fünf Prozentpunkte unter dem Vorkrisenwert von 2008.

Diese anhaltende konjunkturelle Abwärtsdynamik wird maßgeblich durch den Einbruch der Industrieproduktion befeuert, die 2012 und 2013 jeweils um vier bis fünf Prozent zurückging. Neben der stagnierenden privaten Binnennachfrage haben vor allem die sinkenden Exporte zu dieser Kontraktion im verarbeitenden Gewerbe beigetragen. Der Rückgang der finnischen Exporte ist darauf zurückzuführen, dass hier seit Krisenausbruch kein vergleichbarer Kahlschlag bei Löhnen und Sozialleistungen stattfand, wie er etwa in Südeuropa durchgesetzt wurde. In Finnland sind die Lohnnebenkosten seit Krisenausbruch um acht Prozentpunkte stärker gestiegen als im gesamten Euroraum, sodass die finnischen Ausfuhren sich verteuerten und an Konkurrenzfähigkeit einbüßten. Finnland beteiligte sich unzureichend an diesem verhängnisvollen Wettlauf nach unten bei Löhnen und Sozialleistungen, der von der Bundesregierung der Eurozone oktroyiert wurde. Hierbei sollen die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit und die Erhöhung des Exportvolumens durch das übliche "Gürtel enger Schnallen" den Ausweg aus der Krise weisen.

Das Problem dabei besteht nur darin, dass diese Strategie zu einer allgemeinen Absenkung der Nachfrage in allen hiervon betroffenen Ländern führt, sodass die Absatzmärkte auf gesamteuropäischer Ebene zugleich schrumpfen. Es können nun mal nicht alle Eurostaaten Exportüberschüsse erwirtschaften, ohne dass irgendwer die entsprechenden Defizite einfährt. Folglich hat sich Finnlands einst imposanter Leistungsbilanzüberschuss inzwischen in ein Defizit gewandelt. Ein Überschuss von neun Prozent des BIP wandelte sich binnen eines Jahrzehnts in ein Defizit von zwei Prozent. Das nordeuropäische Land weist somit ein ähnliches strukturelles Problem wie die Südeuropäer bei Krisenausbruch auf: Es verzeichnet Defizite gegenüber dem Ausland, die finnische Volkswirtschaft läuft "auf Pump" - ganz wie die der Spanier oder Griechen vor Ausbruch der Eurokrise.

Die lang anhaltende Rezession hat zudem zu einem raschen Anstieg der Staatsverschuldung geführt, die von 34 Prozent 2008 auf inzwischen knapp 60 Prozent hochschnellte. Der finnische EU-Kommissar Olli Rehn musste deswegen im November Finnland gemeinsam mit Spanien und Italien wegen der ausufernden Schuldenmacherei abmahnen.

Die finnische Regierungskoalition reagiert auf diese überhandnehmenden Krisentendenzen mit der Ankündigung der üblichen "Strukturreformen", die - wieder einmal - "Finnlands Zukunft sichern" sollen, wie es die Zeitung "Die Presse" formulierte. Neben der bereits Anfang 2013 erfolgten Erhöhung der Mehrwertsteuer, die die Binnennachfrage belastet, sollen die Unternehmenssteuern in bewährter neoliberaler Tradition abgesenkt werden, um so den Export zu fördern. Auch hier findet ein europäischer Absenkungswettlauf statt, wie die Neue Züricher Zeitung erläuterte:

Finnlands Unternehmer haben allen Grund zum Jubeln, denn sie gehören zu den großen Gewinnern der Verhandlungen über den Budgetrahmen 2014-2017. Dabei hat die vom konservativen Regierungschef Jyrki Katainen geführte Sechs-Parteien-Koalition beschlossen, die Unternehmenssteuer nächstes Jahr von 24,5% auf 20% zu senken. Finnland wird damit Schweden unterbieten, das den Unternehmenssteuersatz diesen Januar von 26,3% auf 22% zurücknahm; vor Monatsfrist kündigte auch Dänemark eine Senkung auf 22% an.

Die Absenkung der Unternehmenssteuern wird durch weitere Erhöhungen der Konsumsteuern auf Alkohol, Tabak, Süßigkeiten und Strom gegenfinanziert, die zu einer abermaligen Verringerung der Binnennachfrage führen dürften. Zudem will die Regierungskoalition in Helsinki das Rentenalter anheben, die Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zusammenstreichen und die Tarifpartner zu "moderaten Lohnerhöhungen über mehrere Jahre" verpflichten. Studenten sollen überdies künftig geringere Sozialhilfen erhalten, schließlich wird auch Mutterschaftsurlaub verkürzt. Die Zielsetzung der Reformen ist somit klar: Durch Kürzungsmaßnahmen, Lohnzurückhaltung und Steuererleichterungen für Unternehmen sollen die daniederliegenden Exporte belebt werden - auf Kosten der Binnennachfrage. Somit kopiert Helsinki, mit deutlicher Verspätung, die Maßnahmen, die Deutschland der gesamten Eurozone nach dem Vorbild der Agenda 2010 oktroyiert hat.

Durch die gebetsmühlenartig von Berlin abgemahnte Steigerung der "Konkurrenzfähigkeit", durch eine enge Fokussierung auf die Exportförderung soll die Krise überwunden werden. Doch wo sollen die ganzen Exporte hinfließen, wenn nun wirklich alle Eurostaaten auf diesen die Binnennachfrage schwächenden Exportkurs einschwenken? Offensichtlich können diese europäischen Exportüberschüsse nur Jenseits der auf Hungerdiät gesetzten Eurozone realisiert werden. Und genau dies findet nun verstärkt statt. Seit 2011 steigt der Leistungsbilanzüberschuss der gesamten Eurozone - der sich zuvor immer im moderaten Rahmen bewegte - steil an. Inzwischen weist der Europäische Währungsraum einen höheren Überschuss als China auf. Somit wurde die Eurozone tatsächlich von Berlin nach deutschem Ebenbild umgeformt. Die enormen Handelsüberschüsse, die von der Bundesrepublik vor Kurseinbruch gegenüber der Eurozone - und insbesondere gegenüber Südeuropa - erwirtschaftet wurden, (Der Exportüberschussweltmeister) verzeichnet der gesamte Währungsraum nun gegenüber dem außereuropäischen Ausland.

Diese merkantilistische Neuausrichtung Europas auf eine Beggar-thy-Neighbour-Strategie dürfte auch die USA zu ihrer harschen Kritik an der deutschen Exportpolitik motiviert haben - die europäischen Exportüberschüsse führen ja auch zu steigenden Defiziten der USA.