Das Schisma von 2013

Die hitzigen öffentlichen Diskussionen um die Kapitalismuskritik des Papstes legen offen, dass es sich hierbei im Endeffekt um einen Religionsstreit handelt. Kapitalismus als säkularisierte Religion Teil 1

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Für viele konservative Kapitalismus-Fans stellt die scharfe Kritik, die Papst Franziskus in seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium am Spätkapitalismus übte, zweifellos eine Art Dolchstoß dar. Aus dieser Richtung, die jahrzehntelang als treuer Verbündeter im Kampf gegen den gottlosen Kommunismus galt, hätten vor allem wertkonservative Kapitalismusapologeten - die in Krisenzeiten gerne eine Rückbesinnung auf Religion und Familie predigen - keine dermaßen radikale Kritik an der bestehenden Gesellschaftsunordnung erwartet.

Papst Franziskus - ein Häretiker? Bild: Christoph Wagener/CC-BY-SA-3.0

An eine Realsatire erinnert etwa der Eiertanz, den der einflussreiche amerikanische Radiokommentator Rush Limbaugh bei seiner Papstkritik aufführte, um die Heerscharen gläubiger Katholiken unter seiner erzkonservativen Zuhörerschaft nicht zu verprellen. Bevor Limbaugh den Papst buchstäblich des "Marxismus" bezichtigte, gab er seiner Hoffnung Ausdruck, die Äußerungen des Papstes seien "von Linken", die es demnach im Vatikan zuhauf geben müsste, absichtlich missverständlich übersetzt worden.

Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes forderte den Pontifex gar auf, dem Kapitalismus endlich mal den notwendigen Respekt zu zollen und etwas "Dankbarkeit" zu zeigen. Die demütige Verbeugung des "Heiligen Vaters" vor den Prinzipien des Kapitals wäre - wie konnte es anders sein - allein aufgrund des geheiligten Wachstums angebracht, das in den vergangenen gut 200 Jahren vom kapitalistischen Weltsystem generiert wurde, so Forbes. Dieses sei "nahezu 60 Mal so hoch wie all das gewesen, was die katholische Kirche hervorbrachte, als sie den Laden schmiss". Ja, der Forbes-Schreiber projiziert den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand bis in die Spätantike, um die Katholische Kirche zu einer ineffizienten "sozialistischen" Regierung des Mittelalters mutieren zu lassen. Etwas netter, geradezu kumpelhaft bemüht sich Welt-Online, den Frevel des Papstes zu rügen. Dieser hatte es tatsächlich gewagt, eine Selbstverständlichkeit auszusprechen, die für gewöhnlich mit einem Tabu belegt ist: "Kapitalismus tötet." Franziskus wäre "ein ganzer Kerl", er sei "so sehr Mensch, dass er schon fast wieder übermenschlich" wirke, setzte die konservative Tageszeitung an. Doch er hätte den obigen Satz "besser nicht gesagt". Stattdessen wäre ein Halleluja für die "Antriebskraft des Kapitalismus" angebracht gewesen, "der eben doch die Menschen aus der Armut katapultiert, was die globale Entwicklung der letzten Jahre eindeutig beweist. Ein Lob der Marktwirtschaft aus seinem Munde, das hätte der Welt gutgetan."

Auch Welt-Online ist der Ansicht, die Kirche solle gefälligst "den Kapitalismus schätzen". Ja, tatsächlich, angesichts voranschreitender Verarmung in Deutschland, angesichts von 43 Millionen Europäern, die auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, sollen wir weiterhin die "Antriebskraft des Kapitalismus" lobpreisen, die uns immerfort "aus der Armut katapultiert". Es geht hier nicht um Empirie, um die Wahrnehmung der Realität - hier werden Glaubensbekenntnisse vorgetragen. Die Aussage: "Der Kapitalismus schafft Wohlstand" stellt ein pseudoreligiöses Dogma dar, an dem nicht gerüttelt werden darf, auch wenn die sozialen Desintegrationstendenzen selbst in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems zunehmen und Tausende von verzweifelten Menschen im Mittelmeer ertrinken, die aus der zusammenbrechenden Peripherie dieses in Auflösung befindlichen Weltsystems zu entfliehen versuchen.

Auch das konservative Leitmedium der Bundesrepublik, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), spult in Reaktion auf das Evangelii Gaudium artig ihr kapitalistisches Glaubensbekenntnis ab. Zum einen glaubt auch die FAZ offensichtlich daran, dass der Kapitalismus schon immer existierte. Die Apostel, die Jesu um sich scharte, werden dort als "ganz erfolgreiche Kleinunternehmer", als "gesunder Mittelstand" beschrieben - sozusagen als eine Ansammlung der Olaf Henkels und der Dieter Hundts der Antike. Zugleich konstatiert die FAZ ein "äußerst distanziertes Verhältnis" des Christentums zum privaten Eigentum und zum Reichtum. Das Christentum sei von einer "Utopie eines christlichen Kommunismus" geprägt. Es habe den Gläubigen zudem jahrhundertelang ein "schlechtes Gewissen" bezüglich der noblen kapitalistischen Werte wie Gier und Gewinnstreben bereitet, was sich als handfeste "Wohlstandsbremse" erwiesen hätte. Aller historischen Forschung zum Trotz sieht auch die FAZ in der Durchsetzung des Christentums die Ursache - und nicht etwa eine Folge - der Krise und des Untergangs des autoritären und äußerst repressiven spätrömischen Reiches (mit dem sich, nebenbei bemerkt, der Autor offensichtlich identifiziert): "Der Welt predigten die Christen Armut - und in Europa gingen seit dem 5. Jahrhundert die Lichter aus." Was aus dieser Märchenstunde folgt, ist das übliche kapitalistische Glaubensbekenntnis: "Dass es zur Überwindung der Armut Marktwirtschaft und Kapitalismus braucht, kann dieser Papst nicht sehen."

Bezeichnenderweise ist es somit nicht das Festhalten an archaischen Dogmen und die fortgesetzte Diskriminierung Homosexueller innerhalb der Kirche - wie sie etwa von dem schwulen katholischen Theologen David Berger angeprangert wird -, die nun unter massenmediales Dauerfeuer genommen werden, sondern es sind die einzig progressiven Momente im apostolischen Schreiben und in der Rhetorik des Papstes. Mit der zugespitzten Kapitalismuskritik dürfte der Pontifex nicht zuletzt auf die massiven krisenbedingten Verelendungstendenzen in Spanien und Italien reagieren, den zwei wichtigsten katholischen Staaten Europas. Dennoch stellt päpstliche Kapitalismuskritik kein genuin neues Phänomen dar. Selbst der antikommunistische polnische Papst Johannes Paul II. warnte bereits 1991 vor dem Risiko des Aufkommens einer "radikalen kapitalistischen Ideologie", die die Lösung aller Probleme "blind der freien Entwicklung der Marktkräfte" überantworten würde.

Was ist es nun, das die Leitartikler und Meinungsmacher - die Hohepriester des Kapitalkultes - bei der jüngsten Kapitalismuskritik des Papstes dermaßen in Rage versetzt, wenn selbst solche bewährten Antikommunisten wie Johannes Paul II. des Öfteren über den Kapitalismus herzogen? Zweifellos ist es die Radikalität und die Präzision der päpstlichen Analyse, die für den breiten Unmut im bürgerlichen Medienbetrieb sorgt. Auch wenn es befremdlich scheint, aber der "Heilige Vater" hat die Ursachen und die Folgen der kapitalistischen Dauerkrise tatsächlich - soweit dies in einem apostolischen Schreiben überhaupt möglich ist - auf den Punkt gebracht.