"Große Aufgaben" für die GroKo

Das Merkelland. Eine politische Besichtigung - Teil 5

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Was will die großkoalitionäre Bundesregierung leisten? Welchen Problemen hat sie sich zu stellen? Welche gesellschaftlichen Gruppen erhoffen was von ihr? "Große Aufgaben" seien nun zu lösen, kündigte die Kanzlerin an.

Der Koalitionsvertrag gibt höchst umfangreich, aber durchweg sehr ungenau Auskunft über Absichten für die Regierungspolitik, zumeist ohne Konkretion. Wo Vorhaben - es sind einige einleuchtende darunter, was bei 185 Seiten Text auch nicht verwunderlich ist - ein bisschen präzisiert sind, bedürfen sie noch näherer Abstimmung im Kabinett und zwischen den Koalitionspartnern, um als Gesetzesvorschlag in das legislative Verfahren zu gelangen.

Der endlos schweifende Charakter des Vertragswerkes erklärt sich aus der Prozedur bei den Koalitionsverhandlungen: Um das Bündnis in den beteiligten Parteien schmackhaft zu machen, wurden möglichst viele Funktionsträger einbezogen, die ihre Wünsche wenigstens verbal berücksichtigt wissen wollten. Außerdem halten Vieldeutigkeiten in den Formulierungen den Raum offen für kleine Machtkämpfe innerhalb der regierenden Koalition, mit denen die Parteien sich dann bei ihrem jeweiligen Anhang profilieren können.

Im Koalitionsvertrag steht, was regierend bearbeitet werden soll; das schließt spätere politikgestaltende Schritte, die dem Vertrag nicht zu entnehmen sind, keineswegs aus. Die Koalition von SPD und Grünen unter Gerhard Schröder als historisches Exempel: Die Agenda 2010 war im Wahlauftritt nicht angekündigt, auch nicht bei den Vorgesprächen fürs Regieren, ebenso wenig dann beim Antritt des Kanzlers. Sie war eine unerwartete Bescherung.

Brüche im sozialen Gefüge

"Armut steigt trotz Wirtschaftsaufschwung" - so neulich der Titel eines Berichts in der F.A.Z., über die Ergebnisse des offiziellen "Datenreports 2013", der sich auf die Zahlen des Statistischen Bundesamtes stützt. Zu demselben Resultat kommt der "Armutsbericht 2013" des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (Sinkende Reallöhne - steigende Armut). Verarmung in einem Reichtumsland?

Die Bundesrepublik kann mit Indikatoren zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Arbeitsmarkt aufwarten, von denen andere Länder in Europa nicht zu träumen wagen: In Deutschland liegt die amtlich ausgewiesene Arbeitslosigkeit niedrig, die Zahl der Beschäftigten ist angestiegen, die industrielle Produktion floriert, der Export läuft weltmeisterlich, der Außenhandelsüberschuss nimmt sich prächtig aus - eine Art neues deutsches Wirtschaftswunder in einem anderwärts extrem geplagten Europa.

Der Anschein täuscht, was strukturelle, langfristig wirkende Ursachen hat: Die Beschäftigungsquote sagt noch nichts darüber aus, ob Löhne existenzsichernd sind; die Bundesrepublik hat eine besonders hohe Quote prekärer Arbeitsverhältnisse; eben dies ist aber wieder ein Faktor ihrer Exporterfolge. Übrigens sind in der Exportstatistik Kapitalausfuhren mitgerechnet, Gelder aus der Bundesrepublik, die in ausländische Investitionen gehen; für die heimischen Lohnabhängigen bringen sie keinen Gewinn.

Der im Koalitionsvertrag angekündigte gesetzliche Mindestlohn und einige arbeitsrechtliche Verbesserungen bei der Leih- und Fristarbeit werden nicht den dauerhaften Trend im Arbeitsmarkt brechen: Ausdehnung des Niedriglohnsektors, der zeitweiligen Beschäftigung, der Teilzeitarbeit, der "brüchigen" Arbeitsbiografien.

Diese Entwicklung betrifft gerade den Nachwuchs und dort auch höher qualifizierte, etwa akademisch ausgebildete Arbeitskräfte. Dass ein weiterführender Bildungsweg, möglichst mit einem Hochschulabschluss, vor schlechtbezahlter und prekärer Arbeit schütze, ist ein trügerisches Versprechen der Bildungspolitiker.

All das hat seine Folgen im Rentenalter. Bei einem gleichbleibenden Trend in der Beschäftigungsstruktur bietet das derzeitige gesetzliche Rentensystem für einen zunehmenden Teil der jetzt noch in Ausbildung befindlichen oder jung in den Arbeitsmarkt einrückenden Generation keine Chance mehr für ein zureichende Altersversorgung. Und eine Kompensation durch eine private Rentenversicherung oder Kapitalanlage ist nur für diejenigen möglich, die ein üppiges Einkommen haben. Hinzu kommt der schleichende Wertverlust von privaten Versicherungen und kleinen Anlagen.

Eine Alternative böte nur ein ganz anderes System der materiellen Sicherung im Alter. Weder dazu noch zum sozial spaltenden Trend im Arbeitsmarkt sind im Koalitionsvertrag auch nur Ansätze problemlösender Konzepte zu finden. Diese großen Aufgaben sind auf dem Weg in Regierungsämter offenbar der Aufmerksamkeit von CDU/CSU wie auch SPD entgangen. Und so konnten sie sich darauf einigen, Abschöpfung von Reichtum durch eine Steuerreform sei nicht beabsichtigt und auch nicht notwendig. Das steht völlig im Widerspruch zu den sozialdemokratischen Ansagen im Wahlkampf.

"Weiter so" in der Europapolitik

Wer sich allen anderen Informationen über den Lauf der wirtschaftlichen und politische Dinge auf dem europäischen Kontinent ferngehalten hat und sich mit der Lektüre der diesbezüglichen Passagen im Koalitionsvertrag begnügt, kann nur den Eindruck haben: Da gibt es zwar ein paar bedauerliche Missstände in einigen Ländern, Staatsverschuldung, zu geringes Wirtschaftswachstum, Jugendarbeitslosigkeit; aber diese Probleme sind unschwer in den Griff zu bekommen, wenn alle Europäer das deutsche Erfolgsmodell übernehmen und sich "wettbewerbsfähig" machen.

Die Bundesrepublik, heißt es, sei "der europäische Stabilitätsanker". Bei den europäischen Institionen müsse "die demokratische Legitimation gestärkt", "Entscheidungen der EU" müssten "nachvollziehbarer gestaltet werden".

Eine der wenigen Konkretionen im Europakapitel des Regierungsprogramms: In der europäischen Amtssprache soll "in der Praxis das Deutsche den anderen beiden Verfahrenssprachen Englisch und Französisch gleichgestellt werden". Im Koalitionsvertrag sind die aktuellen Grundfragen europäischer Politik schlichtweg ausgeblendet. Welche Chancen haben denn die Problemländer in Europa, in der Konkurrenz mit der Bundesrepublik "Wettbewerbsfähigkeit" zu erreichen? Wenn sie gleichziehen würden - was wären die Folgen für die deutsche Außenwirtschaft? Der Markt in Europa und in der Welt ist ja nicht unbegrenzt aufnahmefähig. Und Brüssel - geht es nur darum, die Bürgerinnen und Bürger in Europa geschickter "mitzunehmen" beim Entscheidungsgang der europäischen Politikelite und ihrer Bürokratie?

Im gedanklichen Horizont der Großen Koalition sind die politischen Sprengkräfte in der EU gar nicht sichtbar, weder die Tendenzen zum Rückzug auf nationale Politik noch der anwachsende Rechtspopulismus, auch nicht der Fremdenhass als Alltagsideologie. Und die Schuldenlast in den öffentlichen Haushalten, die demokratisch nicht kontrollierte Macht des spekulierenden Kapitals? Im Vorwort zum Koalitionsvertrag, in dessen Ausgabe für SPD-Mitglieder, schreibt der Parteivorsitzende, jetzt Vizekanzler, allen Ernstes: "Die strikte Regulierung der Finanzmärkte und Banken ist ausgehandelt und erreicht." Da werden die Herren in den Höhen der Finanzwelt, falls sie es lesen, sich amüsieren.

Deutsche Geopolitik

CDU/CSU und SPD legen, wen könnte es überraschen, für die Politik der Großen Koalition ein vorbehaltloses "Bekenntnis", so wird es von ihnen in der Glaubenssprache genannt, zur "Stärkung der Transatlantischen Partnerschaft und der NATO" ab. In diesem kriegerisch erfahrenen Bündnis soll die Bundesrepublik ihre "Sicherheitsinteressen" realisieren, vor allem die am Zugang zu auswärtigen Märkten und am Zugriff auf Rohstoffe - militärische Macht als Fortsetzung der Außenwirtschaft mit anderen Mitteln. Die deutschen Rüstungsunternehmen sollen dabei nicht zu kurz kommen.

Die Bundesrepublik habe, so die Große Koalition, "ein elementares Interesse an einer innovativen, und wettbewerbsfähigen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie". Das bedeutet auch: Der hohe Rang des deutschen Rüstungsexport im globalen Waffenmarkt soll gehalten werden. "Der Koalitionsvertrag ist verteidigungsfreundlich formuliert", zitiert die F.A.Z. einen Experten der Branche.

Dass die militärischen Zugriffe des Transatlantischen Bündnisses oder einzelner NATO-Staaten Menschenopfer in Massen gekostet, alles andere als befriedete Gesellschaften hinterlassen haben, nimmt die Große Koalition nicht zur Kenntnis. Sie macht sich keine Gedanken über die Blutspuren der Rüstungswirtschaft. Und der Begriff "Verteidigung" ist für die deutsche Politik längst umgedeutet, er meint nun: Bewaffnete Teilnahme an einem Machtwettbewerb ohne Grenzen - auch hier: "Its the economy, stupid".

"Große Aufgaben"? Es lassen sich andere entdecken. Zu einigen davon macht die Große Koalition kleine Sprüche, so zur neuen digitalen Welt. Da will sie eine "Digitale Agenda" beschließen und "deren Umsetzung gemeinsam mit Wirtschaft, Tarifpartnern, Zivilgesellschaft und Wissenschaft begleiten". Das klingt, an die Adresse der Öffentlichkeit gerichtet, nach "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht".

Gleich mehrere Staatssekretäre werden sich demnächst mit dem Thema beschäftigen, es kommt bestimmt ein Papier dabei heraus. Vollmundige Ankündigungen wie die von "Internetminister" Dobrindt gab es schon, der gleich Deutschland das "schnellste und intelligenteste Netz der Welt" schaffen will. Und bitte nicht ständig an der Datenvorliebe unserer angelsächsischen Freunde herumkritteln, die könnten das übelnehmen.

Als Grundmuster der großkoalitionären Regierungspolitik sind erkennbar: Passivität gegenüber der andauernden sozialen Aufspaltung der deutschen Gesellschaft, kleine Reparaturen, aber keine neuen Modelle für den Arbeitsmarkt und die Altersversorgung. Keine steuerpolitischen Eingriffe. Dahinter das Kalkül, weiteres Wirtschaftswachstum werde die sozialen Probleme überdecken. Konzentration auf die Interessen der Exportwirtschaft, Ausbau der politökonomischen Dominanz der Bundesrepublik in Europa. Unbedingte Treue zur NATO und zur "Transatlantik"-Politik, in diesem Rahmen Agieren für deutsche Interessen im Weltmarkt, unter militärischer Begleitung.

Teil 6: Postdemokratie mit Schutzherrin.

Dr. Arno Klönne, em. Professor für Sozialwissenschaften, Buchveröffentlichungen u.a. über die Sozialstruktur der Bundesrepublik, das "Dritte Reich" und die Geschichte der Arbeiterbewegung. Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky".