Postdemokratie mit Schutzherrin

Das Merkelland. Eine politische Besichtigung - Teil 6

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Beim Blick auf die gesellschaftspolitische Landkarte Europas erscheint die Bundesrepublik als das Land, dem Turbulenzen erspart blieben und in dem diese auch nicht zu befürchten sind. Zwar meint, das haben die Allensbacher Demoskopen herausgefunden, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, es mangele erheblich an sozialer Gerechtigkeit, aber dieses Gefühl führt nicht zu einem politischen Aufruhr. Das Prekariat bleibt passiv.

Die Mittelschichten verspüren allmählich Zukunftsangst, hoffen aber, eine günstige Wirtschaftskonjunktur werde sie vor dem Abstieg bewahren; die ökonomische Stärke des Landes ist ja ungebrochen. Die wirtschaftlichen Eliten müssen politische Abenteuer nicht in Betracht ziehen; ihre Machtstellung ist gesichert.

Die CDU/CSU steht als sozusagen geborene Führungskraft in der parteipolitischen Szene da; die anderen etablierten Parteien sind für sie als Hilfskräfte wahlweise zur Verfügung. Eine neue Partei, die das eingeübte Spiel ganz und gar verderben könnte, ist nicht in Sicht.

Beim Volk hat die politische Klasse mitsamt ihren Praktiken wenig Ansehen, aber die Kanzlerin genießt Respekt. Außerdem gibt es Möglichkeiten, den Verdruss über den Zustand des Politikbetriebs in Grenzen zu halten.

Unterhaltsamer Ersatz: Politische Personalia

Es ist nicht so, als wären die Politikressorts in den Massenmedien in der Verlegenheit, überhaupt Stoff zu finden; die Auf- und Abstiege führender politischer Akteure sind ihr beständiges Thema. Das ist kein Spezifikum der deutschen medialen Beschäftigung mit Politik. Die Besonderheit in der Bundesrepublik: Der Austausch von politischem Spitzenpersonal bedeutet längst keinen Wechsel mehr im Politikkurs.

Die Wahl von Gustav W. Heinemann zum Bundespräsidenten einst war ein Umbruch in der politischen Kultur; für diese aber hat es keine Bedeutung, dass Horst Köhler von Christian Wulff und der von Joachim Gauck abgelöst wurde, so sehr auch damit aufgeregte Berichterstattung verbunden war. Und jetzt: Ursula von der Leyen wird sich an dieselben "verteidigungspolitischen Richtlinien" halten wie ihr Vorgänger und ihr Vorvorgänger; für die mediale Verwertung jedoch boten diese Umbesetzungen reichliches Material.

Peer Steinbrück wurde zum Medienereignis, nicht weil von ihm eine Wende in der deutschen Politik zu erwarten gewesen wäre; eine ernsthafte Absicht dieser Art war ihm kaum nachzusagen. Auf dem Weg in die Große Koalition war das mediale Rätselraten über künftige MinisterInnen dazu geeignet, Politikinteresse von den zuvor im Wahlkampf vorgeführten Konflikten abzulenken; die sollten rasch in Vergessenheit kommen.

Auch politische Personalaffären, die auswärtiger Herkunft sind, bringen Nutzen: Die "Befreiung" von Michail Chodorkowski ersetzt Aufmerksamkeit für die Tücken der eigenen Regierungspolitik in Sachen "Innere Sicherheit".

Partizipation - leicht zu haben

Wie stünde es um eine Demokratie, wenn Bürgerinnen und Bürgern gar keine Chance hätten, in der Politik mitzureden - also braucht es Gelegenheiten dazu.

Seit einigen Jahren schon kann man über die Bundesrepublik sagen: Soviel politische Beteiligung war nie. Allerdings hat diese einen eigentümlichen, eher zweifelhaften Charakter. Das gilt nicht nur für den Mitgliederentscheid der SPD. In Fülle und nahezu tagtäglich kann, wer will, seine Meinung äußern zu politischen Vorgängen oder Akteuren, in zahllosen Medien; die Fragen und die Möglichkeiten zur Antwort sind vorgefertigt, und dann wird ausgezählt. Folgen für das politische Geschehen haben solche Auswertungen in aller Regel nicht.

Man kann sich auch als Wutbürger betätigen. Gelegentlich werden so Entscheidungen auf unteren politischen Ebenen beeinflusst, die Grundmuster der deutschen Gesellschafts- und Außenpolitik bleiben davon unberührt. Die so beliebte "Sonntagsfrage" macht Momentaufnahmen vom Prestige der Parteien, politische Alternativen sind nicht ihr Thema.

Und um es hier noch einmal zu erwähnen: Die Große Koalition hat nicht die Absicht, bundespolitische Weichenstellungen einem Plebiszit auszusetzen.

Politisch intervenieren - bei welcher Adresse?

In der Bundesrepublik ist es rechtlich niemandem verwehrt, Druck auszuüben auf die Inhaber politischer Macht. Durch die Abgabe der Stimme bei Wahlen, durch Demonstrationen, Kampagnen, Verbände und soziale Bewegungen. Bei manchen solcher Aktivitäten kann man sich verdächtig machen, auch wenn es dabei friedlich zugeht; die Datensammler sind eifrig, die geheimen Dienste geschäftig. Dennoch - im globalen Vergleich leben wir in einem freien Land.

Allerdings ist es zunehmend schwieriger geworden, die richtige Adresse für zivilgesellschaftliche politische Interventionen ausfindig zu machen. Wo eigentlich sind die Machtzentren angesiedelt, gegen deren Politik man angehen oder auf die man Einfluss nehmen will?

Im Kanzleramt ist die Person zu Haus, von der laut Grundgesetz die Richtlinien der Politik bestimmt werden. Jedoch ist in Deutschland die Epoche des Absolutismus seit längerem beendet, insofern wäre Bittstellerei bei Angela Merkel deplatziert.

Der Bundestag kommt als Adressat in Betracht, das Grundgesetz verweist ja auf ihn, als die Vertretung des Volkes. Aber die Parlamentarier sind selbst im Zweifel - was eigentlich können sie entscheiden? Wird nicht eher in Brüssel die Politik gemacht, oder bei der EZB, oder beim IWF, oder im NATO-Rat, vielleicht sogar bei den Bilderbergkonferenzen oder an anderen vertraulichen Stellen?

Als höhere Instanzen, deren Vorgaben sie sich anpassen müssen, nennen Politiker stets die Finanzmärkte - aber an welche Adresse kann sich Einmischung aus dem Volke dort oben wenden? "Blockupy" - aber wo? Diese Unübersichtlichkeit der Machtstrukturen lähmt jede demokratische Initiative "von unten". Wird eine solche auch gar nicht benötigt, ist der Gedanke an sie eine Antiquität?

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