Mythos Öffentlichkeit

Hartnäckig hält sich hierzulande eine fixe Idee, die das demokratische Bewusstsein vor mehr als fünfzig Jahren heimgesucht hat

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Vor gut einem halben Jahrhundert veröffentlichte der damals 32-jährige Jürgen Habermas den "Strukturwandel der Öffentlichkeit", seine Habilitationsschrift. Damit verband er den Glauben sowie die Hoffnung, dass die Bürger einer Gesellschaft willens und in der Lage seien, sich darüber zu verständigen, wie sie ihr gemeinsames Leben gestalten, organisieren und entwickeln möchten.

Um dieses "normative" Konzept einer "bürgerlichen", später wahlweise auch "deliberativen" Öffentlichkeit rational begründen zu können, verfiel der aufstrebende Sozialphilosoph Ende der 1950er auf die Historie. Statt aber, wie man hätte vermuten können, in der Antike anzudocken, bei der Idee der "Polis", der "Agora" und der "res publica", suchte er den historischen Faden in der Geschichte der Moderne.

Die Souveränität franst aus

Als Modellfall galt ihm damals die englische Entwicklung, die Ende des 17. Jahrhunderts einsetzte und zu ersten Ansätzen einer Demokratisierung der Gesellschaft geführt hatte. In der "Glorreichen Revolution" von 1688/89 schufen die Gegner des englischen Absolutismus mit den "Bill of Rights" die Grundlage für den heute in westlichen Demokratien gängigen Parlamentarismus. Gleichzeitig raubten sie dem Monarchen Teile seiner Souveränität und sicherten sich eine erste Teilhabe an staatspolitischen Entscheidungen.

In diesem Übergang von der Souveränität zur "Gouvernementalität" (M. Foucault) wollte Habermas den Beginn eines Liberalisierungsprozesses erkennen, der sich danach in Frankreich fortsetzte und schließlich auch in Deutschland zu so etwas wie einer "öffentlichen Meinung" führte, einem medialen Raum, in der literarisch "gebildete" Bürger über ihre öffentliche Angelegenheiten disputieren und über deren Ausgestaltung in Rede und Gegenrede befinden.

Möglich machte dies laut Habermas eine neuartige Lese-, Brief- und Salonkultur, die von einer ausufernden Produktion von Zeitungen und Zeitschriften, von Verlagen und Buchhandlungen, Autoren und Bibliotheken begleitet, gefördert und geformt wurde. Bis auf den heutigen Tag ist der 84-Jährige der festen Überzeugung, dass in all diesen Lesezirkeln und assoziierten Verbänden jene "politische Gleichheitsnormen" vorbereitet und schließlich auch eingeübt worden sind, die eine künftige liberale Gesellschaft auszeichnen.

Später traten zu den bekannten Organisations- und Vertriebsformen des Verlags- und Zeitschriftenwesens dann im 20. Jahrhundert elektronische Massenmedien hinzu, die den Kommunikationsbetrieb kanalisierten, zentralisierten und für wirtschaftliche Zwecke, für Reklame und Verkauf missbrauchten. Die damit rasant wachsende Kommerzialisierung, Professionalisierung und Verdichtung des Kommunikationsnetzes, die alsbald auch eine Fusion von Information, Unterhaltung und Werbung in Gang setzten, stahl dann laut Habermas "dem Prinzip der Publizität seine Unschuld".

Seitdem Medienhäuser, Medienmogule und Public-Relations-Abteilungen, die Unternehmen, Parteien und anderen Organisationen unterhalten, den öffentlichen Raum okkupiert haben, wachsen sich diese von massenmedialen Organen kolonialisierten Öffentlichkeiten laut Habermas zu "vermachteten Arenen" aus, in denen längst nicht mehr um das "beste Argument" und dessen "zwanglosen Zwang" gerungen wird, sondern allenfalls noch um Einfluss und Erfolg, um Beifall und Zustimmung des Publikums.

Besessen von einer Idee von Demokratie

Obwohl sein soziologischer Widerpart Niklas Luhmann ihn schon Mitte der 1990er dezent darauf hingewiesen hatte, dass es sich bei der "Forderung von Öffentlichkeit als Mittel zur Durchsetzung von Vernunft" um einen "verengten, gleichsam konstitutionalistischen Begriff von Öffentlichkeit" handle, der von einem "viel allgemeiner(en) Begriff des Öffentlichen" abzuheben sei, der sich einstmals gegen die "Strategien der Geheimhaltung und der Heuchelei" und den "Schutz einer Privatsphäre" gewandt habe, hält der Philosoph weiter an seiner fixen Idee fest.

Nach wie vor ist Habermas davon überzeugt, dass sich jenseits "mediatisierter" Öffentlichkeit(en), "autochthone" Zirkel und Institutionen rechtlich eingerichtet und kontrafaktisch am Leben erhalten haben. Sein hoffnungsvoller Blick richtet sich diesbezüglich besonders auf die sogenannte Qualitätspresse und das öffentlich-rechtliche Staatsfernsehen, auf Wahlkämpfe und Parteitage, auf zivilgesellschaftliche oder radikaldemokratische Verbände, auf den Campus und auf Hochschulseminare.

Doch selbst in diesen Organisationen bzw. auf diesen Veranstaltungen fristet die "Macht des Arguments" ein jämmerliches Dasein, wie jeder unvoreingenommene Beobachter leicht erkennen kann. Auch hier findet in aller Regel ein Hauen, Stechen und Treten um Posten und Privilegien, um Themen und Funktionen statt. So mancher Anführer und Gernegroß hat auf Parteitagen oder ähnlichen Zusammenkünften schon sein persönliches Waterloo erlebt. Meist geht es auch dort ausschließlich um Anerkennung und Einfluss, um Profilierung und Eitelkeiten, um Animositäten und Kumpaneien.

Unterbelichtet blieb in seiner Schrift nicht nur die "plebejische Öffentlichkeit", die sich einst in der Französischen Revolution artikuliert hatte, mit den Jakobinern und dem Namen Robespierre verknüpft ist und im "ungebildeten Volk" sein literarisch "gebildetes Gewand" kurzzeitig abstreifen konnte; unberücksichtig blieben auch die traditionalen Formen der "repräsentativen Öffentlichkeit", bei der das Volk und/oder das Publikum zur Staffage, Kulisse oder zujubelnden Masse für den fürstlichen oder kirchlichen Würdenträger mutiert.

Während sie im Lichte elektronischer Echtzeitmedien längst eine neue Renaissance feiert: Jeder Regierungschef, Firmenlenker oder Kirchenmann bedient sich ihrer lebhaft, um seine Macht und sein Ansehen zu bewahren oder zu steigern, diente sie Habermas immer nur als historisches Kontrastprogramm, um den annoncierten "Strukturwandel" herleiten und begründen zu können.

Hat es diesen Strukturwandel jemals gegeben?

Unbeachtet blieben schließlich auch die medien- und machtpolitischen Implikationen, die diesen Strukturwandel begleitet haben. Wie Friedrich Kittler auf eine entsprechende Frage meinerseits Anfang der 1990er einmal andeutete, sei eine solche "Öffentlichkeit", die der Berliner Medienhistoriker lieber "postalisch" nannte, allein der Staatsräson geschuldet gewesen und keinesfalls einer plötzlich aufkommenden Lesesucht und Salonkultur.

Den "Strukturwandel", den der Philosoph exklusiv entdeckt und aufgedeckt haben wollte, sei eher eine "Erfindung von Philosophen" und "ein Effekt absolutistisch-merkantilistischer Techniken etwa im Postwesen gewesen". Diese politische Öffentlichkeit, die Habermas seinen Lesern als Erfolgsmodell einer freien Gesellschaft verkaufen will, sei vor allem aus "Steuergründen" und zur "Finanzierung von Kriegen" durchgesetzt worden, in deren Schlepptau sich dann diese von ihm beobachtete "vormediale" Öffentlichkeit gebildet habe.

In Deutschland etwa waren das "Post-Wesen" und der internationale "Post-Verkehr", der sie ihre Entstehung verdankt, fast dreihundert Jahre lang in den Händen der Thurn und Taxis, vom frühen 16. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dank der Napoleonischen Eroberungen und nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verlor das Fürstengeschlecht, das in Regensburg residierte und damit auch zu Ruhm und Reichtum gelangt war, aber sein kaiserliches Reichspostmonopol und zugleich eine (s)einer wichtigsten Einnahmequellen.

Der exorbitant hohe Schrift-Verkehr und die ausgiebige Korrespondenz, die etwa der Geheimrat und Staatminister Goethe mit unzähligen Leuten in ganz Europa unterhielt, war danach nur deswegen möglich, weil Karl Anselm von Thurn und Taxis, der seit 1773 Generalerbpostmeister der Kaiserlichen Reichspost war, den Dichterfürsten vom "Briefporto" befreit hatte. Diese "Gebührenfreiheit" wurde zu dieser Zeit nur sehr wenigen Auserwählten zuteil und galt auch wegen der damit verbundenen "Kostenersparnis" als ungeheures Privileg.

Auch wenn sich Goethes "Portofreiheit" bis heute nicht hat nachweisen lassen, auch nicht in den Archiven der Thurn und Taxis in Regensburg, weist diese historische Begebenheit doch darauf hin, dass hinter dem umfangreichen Schrifttum, das allein der Großdichterfürst unterhielt, auch wieder so etwas wie eine "diskursive Regel" vermutet werden kann, ein "medialer Effekt", dem der Name "die Post" eingeschrieben ist.