Was ist Realität?

Wie lautet die Weltformel? Haben Quarks eine Struktur? Ungelöste Rätsel der Wissenschaft, Teil 2

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Das Standard-Modell beschreibt die Wechselwirkungen der bekannten Elementarteilchen. Dabei ist es ziemlich erfolgreich - die Existenz aller Teilchen darin ist nachgewiesen, seine Aussagen sind nachgemessen. Schwache, starke und elektromagnetische Wechselwirkung sind berücksichtigt, auch Quantenmechanik und Quantenchromodynamik legen ihm keine Steine in den Weg.

Stimmt das Standard-Modell der Physik?

Trotzdem sind Physiker in den letzten Jahren zunehmend unzufrieden damit. Da gibt es zum einen Extremsituationen, unter denen es versagt: im Inneren Schwarzer Löcher oder kurz nach dem Urknall, kurz gesagt immer dann, wenn die im Vergleich zu den anderen Wechselwirkungen schwache Gravitation doch mal eine Rolle spielt. Und dann wären da die lästigen Naturkonstanten.

Eine wirklich elegante Theorie sollte ohne scheinbar willkürlich festgelegte Zahlen auskommen. Das Standard-Modell braucht immerhin 18 solcher Parameter, die experimentell bestimmt werden müssen. Lassen sie sich vielleicht mit Hilfe einer umfassenderen Theorie vorhersagen? Eine Antwort darauf wäre nobelpreisverdächtig.

Wie sieht die Weltformel aus?

Der große Reiz der Speziellen Relativitätstheorie besteht für die Allgemeinheit darin, dass sie sich auf eine simple Formel reduzieren lässt: E=mc2, Energie und Masse sind äquivalent. Eine ähnlich einfache Weltformel, die die Wirklichkeit komplett beschreibt, gibt es vermutlich nicht.

Derzeit konkurrieren drei Theorien darum, sowohl Phänomene im Kleinen (Quantenphysik) als auch im Großen (Allgemeine Relativitätstheorie) korrekt zu beschreiben. Die Stringtheorie ist dabei der älteste Kandidat. Bei ihr sind die fundamentalen Bestandteile des Kosmos eindimensionale Saiten (Strings). Die Elementarteilchen entstehen dann als Anregungen dieser Strings, deren Länge etwa im Bereich der Planck-Länge liegt.

Superstringtheorien gehen zusätzlich von einer Supersymmetrie aller Elementarteilchen aus - demnach hätte jedes Teilchen einen Symmetriepartner, von dem es sich nur durch den Spin unterscheidet. Eine Erweiterung dazu stellt die M-Theorie dar, die Stringtheorie und Supergravitation (um Supersymmetrie erweiterte Versionen der Allgemeinen Relativitätstheorie) vereint. Hier vollzieht sich das Geschehen auf und um Branes, mehrdimensionale Ebenen.

Etwas abgeschlagen wirkt derzeit die Schleifenquanten-Gravitation. Sie baut auf der Quantenphysik auf, nimmt aber an, dass auch Raum und Zeit aus kleinsten Brocken bestehen. In der Folge lässt sich das Universum mathematisch über aus Linien und Knoten bestehende Diagramme darstellen. Dieses Netz aus Linien und Knoten ist aber nicht in irgend etwas eingebettet - es stellt das eigentliche Universum dar.

Zwischen den Linien gibt es nichts, nicht einmal das Vakuum. Die Elementarteilchen entsprechen dann Knoten dieses Netzes oder Kombinationen mehrerer Knoten. Packt man jetzt noch die Zeit als weiteren, von den anderen Dimensionen nicht wesentlich unterscheidbaren Parameter hinzu, ergeben sich Flächen. Deren Veränderung und Bewegung stellt dann den Zeitfluss dar.

Wird am Ende eine dieser Theorien gewinnen? Das ist schwer zu sagen. Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen, dass sie womöglich äquivalent sind: Sie drücken dieselben Tatsachen vielleicht nur mit einem anderen Instrumentarium aus. Welches sich dabei am Ende als am praktikabelsten erweist, wird sich zeigen.

Haben Quarks oder Elektronen eine Struktur?

Quarks, die Bausteine, aus denen Protonen oder Neutronen bestehen, und die zu den Leptonen gehörenden Elektronen haben eine Gemeinsamkeit: Der aktuelle Stand der Physik unterstellt ihnen, keine innere Struktur zu besitzen. Zwar haben die Teilchen Eigenschaften wie Ladung, Masse, Spin oder (bei Quarks) auch Farbladung. Zwar sind die Teilchen keineswegs leicht - das mit dem Elektron verwandte Tauon etwa ist doppelt so schwer wie ein Proton, das aus drei Quarks besteht und eindeutig eine räumliche Ausdehnung besitzt.

Zerfällt das Tauon (am liebsten und meist sehr schnell verwandelt es sich in mehrere Pionen), bestehen die Zerfallsprodukte dann jeweils aus zwei Quarks. Dass das Tauon selbst angeblich keine Struktur besitzt, will da nicht ganz einleuchten. Nun kümmert sich die Physik zwar selten darum, ob ein Phänomen einleuchtend ist - trotzdem fragen sich die Forscher natürlich, ob vielleicht doch noch ein innerer Aufbau feststellbar ist.

Wie funktioniert der Kaye-Effekt?

Der Kaye-Effekt ist ein spannendes Phänomen, das Sie sogar zu Hause nachstellen können: Gießt man Shampoo auf eine feste Oberfläche, spritzt ein dünner Strahl aus der Oberfläche nach oben heraus. Allgemein passiert das bei allen Flüssigkeiten mit der Eigenschaft der Strukturviskosität: Bei ihnen wirken seitlich auftreffende Kräfte (Scherkräfte) verdünnend. Doch warum der Kaye-Effekt auftritt, konnten Forscher bisher nicht herausfinden.

Wie funktioniert Sonolumineszenz?

Sonoluminszenz ist eine spezielle Art der Lumineszenz: Manche Flüssigkeiten senden bei starken Druckschwankungen kurze Lichtblitze aus. Das Phänomen entsteht, wenn sich durch den Einfluss von Druckwellen (Schall) in der Flüssigkeit Hohlräume ausbilden und wieder platzen. Dabei wurden schon Temperaturen von bis zu 10000 Kelvin gemessen.

Wie genau Sonoluminezenz allerdings funktioniert, ist bisher noch unbekannt. Eventuell entstehen die Lichtblitze durch das erhitzte Gas - ihr Spektrum ist jedenfalls ein thermisches.

Was ist Realität?

Die Quantenphysik hat unser Verständnis von Wirklichkeit drastisch verändert. Statt einer simplen Ursache-Wirkungs-Beziehung haben wir mit der Wellenfunktion nun eine Überlagerung von Wahrscheinlichkeiten, eine Superposition, die auf irgendeine Art spätestens dann zur Realität wird, wenn jemand hinsieht.

Was das für unser Verständnis von der Wirklichkeit bedeutet, darüber waren sich die Quantenphysiker lange uneins. Die Kopenhagener Deutung etwa, 1927 von Niels Bohr und Werner Heisenberg in Kopenhagen formuliert, geht davon aus, dass die Wellenfunktion zum Zeitpunkt der Messung kollabiert - sie nimmt einen der möglichen Messwerte an.

Eine alternative Erklärung bietet die Everettsche Viele-Welten-Theorie: Jeder mögliche Zustand wird nach dieser Theorie auch tatsächlich realisiert - er spannt sein eigenes Universum auf, das von allen anderen Universen komplett getrennt ist. Es gibt demnach also ein Universum, in dem Sie diesen Artikel lesen, und ein anderes, in dem Sie sich lieber die Tageszeitung gekauft haben.

Interessant ist, dass im Rahmen dieser Theorie durchaus auch die unwahrscheinlichsten Dinge nicht nur passieren können, sondern passieren müssen, solange sie möglich sind. Es gibt also mindestens ein Universum, in dem eine Tasse von sich aus nach oben gesprungen ist, weil sich zufällig all ihre Atome gleichzeitig nach oben bewegt haben.

Kritiker bemängeln deshalb, dass das Konzept der Wahrscheinlichkeit hier seinen Sinn verliert. Aus der Innensicht des Bewohners einer dieser Welten (und nur zu dieser Innensicht ist der Mensch prinzipiell fähig) bleibt das Maß des Zufalls jedoch erhalten, obwohl sich das System aus der Gesamtperspektive deterministisch entwickelt, denn es nimmt garantiert alle möglichen Zustände ein.

David Bohm, Foto: Karol Langner, Lizenz: public domain

Ebenfalls zu den Interpretationen der Quantentheorie zählt die Bohmsche Mechanik. Sie beschreibt den Zustand eines Teilchens über die bekannte Wellenfunktion und zusätzlich über eine Ortsfunktion als versteckte Variable. Dadurch wird sie auf den ersten Blick deterministisch, die Zufälligkeit der Messergebnisse verschwindet.

Da sie allerdings eine prinzipielle Unzugänglichkeit der Anfangsbedingungen voraussetzt, kann sie auch nicht mehr oder genauere Aussagen treffen als die anderen gängigen Interpretationen (sonst würde man auch von einer neuen Theorie sprechen statt nur von einer Interpretation). Die Bohmsche Mechanik liefert also, übertragen gesagt, genaue Bewegungsgleichungen - nur wissen wir nicht, von welchem Punkt wir losrechnen können.

Eine etwas leichter verdauliche Erklärung liefert da die so genannte Dekohärenztheorie. Sie basiert auf der Tatsache, dass ein Quantensystem durch Wechselwirkung mit seiner Umgebung ein für allemal verändert wird, das heißt keine Quanteneigenschaften mehr hat (diesen Vorgang nennt man Dekohärenz). Der Beobachter verliert hier die überragende Rolle, die er in der Kopenhagener Deutung hatte (manche ihrer Vertreter gingen so weit, das Vorhandensein der Realität außerhalb des Beobachters zu bezweifeln).

Eine Beobachtung oder Messung ist nichts anderes als eine Wechselwirkung mit der Umgebung. Man kann sogar berechnen, wie schnell die Dekohärenz eintritt. Nämlich für typische Objekte der Alltagswelt ungeheuer flink: Eine Bowlingkugel hat zum Beispiel bei Normalbedingungen schon nach nur 10-26 Sekunden keine Quanteneigenschaften mehr.

Eine hübsche Interpretation der Quantenphysik möchte ich Ihnen nicht vorenthalten - sie gehört zu meinen Lieblingstheorien: "Shut up and calculate" oder "Halt‘s Maul und rechne" bezieht sich darauf, dass die Schrödinger-Gleichung jede Menge interessanter Ergebnisse liefert, ganz egal, wie man sie philosophisch interpretiert.

Tatsächlich ändern die verschiedenen Deutungen rein gar nichts an den Gesetzen der Quantenmechanik. Manch Physiker überlässt die Philosophie deshalb lieber den Philosophen und versucht einfach, die Instrumente der Theorie für sich zu nutzen.

Im nächsten Teil des Artikels finden Sie garantiert keine Antworten auf die folgenden sechs Fragen:

  1. Ist P=NP?
  2. Stimmt die Riemannsche Vermutung?
  3. Gibt es allgemeine Lösungen der Navier-Stokes-Gleichungen?
  4. Gibt es eine Insel der Stabilität?
  5. Wie entstand die Urzelle?
  6. Sollten Sie bei Regen sprinten?

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