Interpol wird zum Instrument politischer Verfolgung

Immer häufiger landen politische Aktivisten, Flüchtlinge und Journalisten auf digitalen Fahndungsplakaten der internationalen Polizeiorganisation. Ursache ist wohl ein neues Dateisystem

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Die eigentlich für Kriminalität eingerichteten Datensammlungen von Interpol werden zunehmend politisch genutzt. Darauf machte nun die Menschenrechtsorganisation Fair Trials International aufmerksam. Auch die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch berichtet darüber. Im Fokus stehen Russland, Sri Lanka, die Türkei, Belarus, Indonesien, der Iran und Venezuela. Allerdings sind auch Aktivisten wie der Seashepherd-Kapitän Paul Watson gelistet. Edward Snowden fehlt dort hingegen, denn vermeintliche Spionage gehört nicht zur Zuständigkeit der Polizeiorganisation.

Interpol verwaltet die sogenannten "Red Notices", in denen Personen für polizeiliche Maßnahmen ausgeschrieben sind. Grundlage sind Haftbefehle in den 190 Mitgliedsländern, die wiederum auf alle digitalen Fahndungsplakate anderer Länder zugreifen können. Nachdem die Polizei eines Landes der Gesuchten habhaft wurde, steht gewöhnlich eine Auslieferung an. Das System ist aber nicht verpflichtend: Jeder Staat kann selbst entscheiden, welche Maßnahmen er ergreift. Laut Fair Trials International (FTI) erkennt Großbritannien etwa nicht an, dass eine Listung bei Interpol als Grundlage einer Festnahme dienen könne. Neben den "Red Notices" gibt es auch die Farben Gelb (vermisste Personen), Grün (Warnungen) sowie Blau (die Bitte um mehr Informationen).

FTI hatte jüngst den Bericht "Strengthening respect for human rights; strengthening INTERPOL" veröffentlicht. Demnach fallen vor allem Russland, Sri Lanka, die Türkei, Belarus, Indonesien, der Iran und Venezuela diesbezüglich auf. Sie nutzten das System, um politische Dissidenten oder Flüchtlinge zu verfolgen. Im Fokus stünden aber auch Journalisten.

Vorwürfe wegen "Hooliganismus"

Als eines der Beispiele wird der Fall des russischen Aktivisten Petr Silaev genannt, der an umweltbezogenen Demonstrationen gegen einen Autobahnbau bei Khimki nahe Moskau teilnahm. Wegen Einschüchterungen und Gewalt erhielt Silaev Asyl in Finnland. Jedoch wurde er auf einer Reise in Spanien festgenommen und beinahe ausgeliefert. Erst nach längerer juristischer Auseinandersetzung erkannte auch die spanische Regierung an, dass die russischen Vorwürfe eines angeblichen "Hooliganismus" politisch motiviert waren. FTI hatte daraufhin die Löschung der Daten von Silaev verlangt. Dem wollte Interpol aber nicht folgen. In einer Erwiderung schreibt die Organisation, man habe keinen Grund zu glauben, dass die Datenspeicherung nicht im Einklang mit den eigenen Regelungen stünde.

Als weitere Fälle führt FTI die türkischen Staatsangehörigen Sahin Duman und Vicdan Özerdem an, die in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt sind. Weil sie von der Türkei ebenfalls als "Red Notice" ausgeschrieben waren, waren sie an der kroatischen Grenze festgenommen worden. Die Auslieferungsprozedur habe erhebliche Auswirkung auf die psychische Gesundheit der beiden gehabt, schreibt FTI.

Neben politischem Aktivismus werden aber auch Aktivitäten verfolgt, die eigentlich nicht als kriminell gelten können. FTI schildert den Fall einer Frau, die in einem Land im Mittleren Osten einen Kredit aufnahm, wegen einer Verletzung und einer kurzfristigen Ausreise aber den Job verlor. 2012 hatte das betreffende Land eine Fahndung über Interpol ausgeschrieben, nachdem die Bank ihre Schecks stornierte. Die Betroffene zog nach Großbritannien und arbeitete dort bei einer Fluglinie. Hierfür benötigte sie ein US-Visum, was ihr aber wegen des Eintrags verwehrt wurde. Zwar konnte sie ihre Daten schließlich löschen lassen, verlor aber dennoch den Job.

EU-Kommission sind konkrete Fälle bekannt

Statewatch zitiert mehrere ähnliche Vorfälle aus dem FTI-Bericht, darunter eine Unabhängigkeitsaktivistin aus Indonesien, ein auf Anti-Korruption spezialisierter Journalist oder ein Kartoffelbauer aus Kanada, der auf Geheiß Algeriens verhaftet wurde, da er angeblich minderwertige Ware verkauft habe. Der Vorwurf brachte ihm ein Jahr Haft im Libanon ein. Interpol wirbt auch in anderen Ländern für die Nutzung seiner Systeme. Erst kürzlich wurde etwa Libyen an die Datensammlung angeschlossen (Deutsche Polizei hilft bei militärischer Grenzsicherung in Libyen).

Jedoch nutzen auch viele westliche Länder ein "Red Notice" zur politischen Verfolgung: So ist mit Paul Watson der Kapitän der "Sea Shepherd" wegen angeblicher "Seenot" (wohl als Vorwurf gemeint) geführt. Auch der Wikileaks-Gründer Julian Assange soll weiter gelistet bleiben, wie Interpol vor zwei Jahren bekräftigte. Grundlage ist allerdings kein Gesuch aus den USA, sondern der von schwedischen Behörden aufrecht erhaltene Vorwurf der Vergewaltigung. Edward Snowden hingegen wurde nie durch die USA gelistet - aus dem einfachen Grund, dass Interpol keine Gesuche wegen Spionage entgegen nimmt.

Mittlerweile hat die Problematik auch die EU-Kommission erreicht. In der Antwort auf eine Anfrage zweier EU-Abgeordneter schreibt die Innenkommissarin Cecilia Malmström, es seien konkrete Fälle bekannt, "bei denen eine Reihe von Interpol-Mitgliedern angeblich politisch motivierte Ersuchen um Festnahme gesuchter Personen gestellt haben". Die Kommission ist zwar nicht Mitglied von Interpol, will aber "in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten als Mitgliedern von Interpol" die dort bestehenden Verfahren für die Ausschreibungen "ansprechen". Malmström verspricht, das EU-Parlament über den Fortgang zu informieren.

Einen Monat zuvor hatte sechs Abgeordnete ein Schreiben an mehrere Stellen der EU gerichtet, in dem auch der Datentausch von Interpol mit der EU-Polizeiagentur Europol moniert wird.

Bild: Interpol

Neues System kann mehr Data Mining, aber weniger Datenschutz

Eigentlich gilt bei Interpol die Devise, sich aus politischen Auseinandersetzungen der beteiligten Regierungen herauszuhalten. Dass dennoch zunehmend unliebsame Aktivisten in den Datensammlungen landen, könnte an einem kürzlich erfolgten Upgrade auf ein neues Dateisystem liegen. Gemeint ist das System "I-link", das nach Auskunft von Interpol den Datentausch "auf eine neue Ebene" hieven soll. Es handelt sich um Data Mining. Wie die Organisation selbst schreibt, werden bislang unzusammenhängende Datensätze miteinander abgeglichen. Außerdem soll Datentausch durch die Polizeibehörden der Mitgliedsländer mittlerweile nahezu in Echtzeit erfolgen.

Statewatch argwöhnt allerdings einen anderen Grund für die ausufernde Nutzung der Datenbanken zur politischen Verfolgung: Denn die 190 nationalen Kontaktstellen können ihre Informationen nun selbst in die Informationssysteme bei Interpol einstellen. Das bedeutet, dass die Daten nicht mehr menschlich überprüft werden, bevor sie online gehen. Die Annahme wird durch Zahlen unterstützt: 2001 waren 1.418 Personen ausgeschrieben, 2008 mehr als doppelt soviel. 2011, zwei Jahre nach der Einführung von "I-link", verzeichnete Interpol einen Anstieg auf 7.678, ein Jahr später wuchs die Zahl erneut um rund 500 Personen.

Der FTI-Bericht "Strengthening respect for human rights; strengthening INTERPOL" legt im Titel nahe, dass Interpol weiter gestärkt werden soll. Die Polizeidatenbanken stehen nicht grundsätzlich in der Kritik, lediglich eine missbräuchliche Verwendung soll gestoppt werden. So entwirft FTI Vorschläge zur Reform. Interpol solle Ausschreibungen zum Beispiel zurückweisen, wenn diese offensichtlich politisch motiviert sind. Außerdem müssten die ausschreibenden Behörden stets einen Haftbefehl vorweisen. Die Polizeiorganisation soll zudem die Berichte von Menschenrechtsorganisationen zur Kenntnis nehmen und die Fälle damit abgleichen. Gleichfalls müssten erfolgreiche Ersuchen, also Festnahmen, auf ihren Verlauf überprüft werden.

Mit der "Kommission zur Kontrolle von Interpol-Daten" verfügt die Organisation zwar über einen Überprüfungsmechanismus. FTI bemängelt aber, dass diese vor allem aus Datenschutzexperten besteht, die nichts von Asyl verstehen. Die Abteilung solle deshalb aufgewertet werden und auch andere Beschwerden bearbeiten. Ob dieses nachträgliche Widerspruchsrecht den Hunderten Aktivisten, Flüchtlingen und Journalisten wirklich helfen würde, kann allerdings bezweifelt werden.