Selektive Osterweiterung

Die Debatte um "Armutszuwanderung" aus Osteuropa verdunkelt den Umstand, dass Deutschlands Wirtschaft zu den Hauptprofiteuren der Osterweiterung gehört

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Wenn es um dumpfen Rechtspopulismus geht, kann die CSU durchaus Standhaftigkeit beweisen. Die Parteiführung setzt weiterhin ihre scharfe xenophobe Kampagne gegen rumänische und bulgarische Migranten fort, die in übelster rechter Tradition des Schmarotzertums bezichtigt werden – diesmal spricht man vom "Zuzug in die Sozialsysteme". Einstimmig hat die "christlichsoziale" Bundestagsfraktion folglich zum Jahresauftakt ein umstrittenes Positionspapier verabschiedet, in dem Maßnahmen gefordert werden, um Migranten den Zugang zum deutschen Sozialsystem zu erschweren. Ein entsprechender Staatssekretär-Ausschuss wurde bereits von der Bundesregierung gebildet.

Die konkreten Vorschläge aus den Reihen der CSU - die ihre ausländerfeindliche Kampagne unter dem Motto "Wer betrügt, fliegt raus" fährt - bilden sicherlich einen weiteren Gipfelpunkt christlichsozialer Politik: Eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern prüft gerade rechtliche Möglichkeiten, den Migranten aus Bulgarien und Rumänien das Kindergeld zu streichen. Und selbstverständlich verwehrt sich die Parteiführung der CSU auch dagegen, dass ihre rechtspopulistischen Umtriebe auch als solche bezeichnet würden. Man betreibe keine rechtspopulistische Politik, erklärte CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt während der Partei-Klausur im oberbayerischen Wildbad Kreuth: "Ich habe überhaupt keine Veranlassung, mir einen solchen Hut aufzusetzen."

Frau Hasselfeldt hat zumindest in dahingehend Recht, dass dieser Rechtspopulismus inzwischen mehrheitsfähig geworden ist – und rechtspopulistische Ressentiments nach jahrzehntelanger Rechtsentwicklung längst im politischen Mainstream der Bundesrepublik angekommen sind. Die CSU kann bei ihrer Kampagne den Stammtisch mal wieder hinter sich versammeln. Rund 80 Prozent aller Umfrageteilnehmer, die im Auftrag der Bild-Zeitung zu dieser Thematik befragt wurden, sprachen sich dagegen aus, "Zuwanderer bei sozial- und familienpolitischen Leistungen sofort mit Deutschen" gleichzustellen. Rund 71 Prozent waren auch der Meinung, "dass Leistungen wie das Kindergeld an Zuwanderer erst nach einer Wartezeit von mindestens einem halben Jahr gezahlt werden sollten".

Den Stand der Diskussion über die angebliche "Armutszuwanderung" brachte der neue Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) auf den Punkt, der in bewährter Maier den Armenhäusern der EU die Schuld an ihrer Armut zuschob. Bulgarien und Rumänien hätten bei der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Volkswirtschaften versagt, so Müller: "Die EU hilft über ihre Sozial-, Regional- und Strukturfonds diesen Ländern, im eigenen Land Perspektiven und neue Arbeitsplätze zu schaffen, damit es nicht zur Binnenwanderung in Sozialsysteme kommt".

In der Öffentlichkeit entsteht so das immer wieder bemühte Zerrbild von Deutschland als dem selbstlosen "Zahlmeister" der EU, der nun auch höhere Sozialkosten aufgrund der Verfehlungen anderer Staaten zu tragen hätte. Unbeachtet bei dieser hitzigen Debatte beliebt aber, wie sehr die Unternehmen Westeuropas – und hier insbesondere Deutschlands – von der Osterweiterung der EU profitierten. Die Erweiterung der EU um die Länder Mittelosteuropas erwies sich als ein äußerst lukratives Geschäft – vor allem für die Industrie Deutschland AG (Deutsch-Mittelost).

Osterweiterung der Märkte

Einen ersten Anhaltspunkt für die Erfolgsstory, die Deutschlands Unternehmen in den vergangenen Jahren östlich von Oder und Neiße erleben konnten, stellt die stürmische Entwicklung der deutschen Exporte in dieser Region dar. Während 1995 nur 8,8 Prozent aller deutschen Ausfuhren nach Mittel- und Osteuropa gingen, waren es 2010 schon 13,4 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ausfuhren aus der Bundesrepublik in diesem Zeitraum ohnehin stark zulegten. Deshalb weisen die nach Osten gerichteten Exportströme eine besonders starke Dynamik auf: Allein 2010 sind Deutschlands Ausfuhren nach Osteuropa um 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr gewachsen.

Auch im folgenden Jahr konnte die deutsche Exportindustrie ähnliche Erfolge in diesem Wirtschaftsraum feiern, wie der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft stolz im März 2012 meldete. Die Ausfuhren in die Region "zwischen Prag und Wladiwostok" hätten 2011 mit 18 Prozent überdurchschnittlich stark zugelegt, da die deutschen Gesamtexporte um 11 Prozent wuchsen. Neben Russland und Kasachstan konnte die deutsche Exportwirtschaft auch in dem nun von Entwicklungsminister Gerd Müller so gescholtenen Rumänien satte Zuwächse verzeichnen: Um 20 Prozent wuchs der deutsche Exportabsatz in dem südosteuropäischen Land. Damit stieg die wirtschaftliche Bedeutung dieser Region für die Exportindustrie in der Bundesrepublik weiter an, wie der Ost-Ausschuss ausführte:

Die Region Osteuropa konnte damit ihren Anteil am gesamten deutschen Export von 15 auf 16 Prozent steigern. Zum Vergleich: China erreichte 2011 einen Exportanteil von 6 Prozent, die USA von 7 Prozent.

Dieser boomende Export nach Osteuropa sichere deutschlandweit inzwischen 1,5 Millionen Arbeitsplätze, betonten die Autoren der Pressemitteilung. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Dynamik ist die Bundesrepublik längst zum wichtigsten Handelspartner auch in der Region Südosteuropa aufgestiegen. Sogar in Bulgarien - das traditionell eher enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, Italien, Rumänien und der Türkei unterhält - konnte die deutsche Exportindustrie im vergangenen Jahr erstmals die Spitzenposition beim bilateralen Handelsvolumen erringen. Rund 5000 deutsche Unternehmen sind in dem Balkanland tätig, die von den lächerlich niedrigen Steuersätzen ("Flattax" von 10 %) und den bulgarischen Hungerlöhnen angelockt wurden. Bei den Auslandsinvestitionen lag Deutschland 2012 auf Platz vier.

Die Investitionen der deutschen Unternehmen konzentrieren sich in Rumänien vornehmlich auf die Kfz-Zulieferbranche, den Einzelhandel und die Energieversorgung. In der rumänischen Region Siebenbürgen, einer historischen Siedlungsregion der deutschen Minderheit der Siebenbürger Sachsen, hat sich inzwischen ein regelrechter Cluster der deutschen Kfz-Zulieferbranche etabliert. Zulieferer wie Continental können hier von einem Lohnniveau profitieren, das in der Montage bei rund zehn Prozent der Lohnkosten in Westdeutschland liegt. Der Mindestlohn betrug 2012 nur 162 Euro, das Einstiegsgehalt eines Ingenieurs belief sich auf 300 Euro. Die deutschen Investoren bringen auch ein mehr als gesundes Selbstbewusstsein mit. Nachdem Siemens einen Industriedienstleister in der Region übernommen habe, verlange die Betriebsführung die Umbenennung der anliegenden Straße in "Siemens-Straße", berichtete das Handelsblatt.

In Rumänien ist die starke Stellung der deutschen Industrie tatsächlich noch ausgeprägter als in Bulgarien, wie das Auswärtige Amt stolz darlegte:

Deutschland ist Handelspartner Nr. 1 und nimmt den dritten Platz bei den ausländischen Direktinvestitionen ein. Es gibt in Rumänien knapp 20.000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung am gezeichneten Kapital, das Ende Juli 2013 4,11 Mrd. Euro betrug. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Reihe deutscher Unternehmen ihre Investitionen über Tochterunternehmen in anderen Staaten tätigt, die somit in den rumänischen Statistiken nicht als deutsche Investitionen ausgewiesen werden. Das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Rumänien betrug im Jahr 2012 17,97 Mrd. Euro (rumänische Exporte nach Deutschland: 8,8 Mrd. Euro, rumänische Importe aus Deutschland: 9,19 Mrd. Euro) und wird im Jahr 2013 noch weiter steigen (Stand April 2013: 6,33 Mrd. Euro – 3,25 Mrd. Euro rumänische Exporte und 3,08 Mrd. Euro rumänische Importe nach Deutschland).