"Lasst den Ali in Ruhe, der ist doch eine Ratte wie wir!"

Ratten helfen uneigennützig anderen Ratten, aber keinen fremden. Auch ein Beispiel für die unter Menschen grassierende "Ausländerfeindlichkeit"?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zweimal ist es meiner Frau in den letzten Jahren passiert, dass Gesprächspartnerinnen sich anlasslos in wüsten ausländerfeindlichen Tiraden ergingen – und dann aus allen Wolken fielen, als meine Frau sie darauf hinwies, dass sie selbst türkische Kurdin sei. Sie hatten das gar nicht bemerkt, und: "Nein, Sie sind doch nicht so, Frau Lehmann."

Seit Neustem darf man sagen: Die Damen haben sich verhalten wie die Ratten. Denn am 14. Januar hat das ambitionierte Open Access-Journal eLife eine Studie von Inbal Ben-Ami Bartal und Kollegen aus der Arbeitsgruppe von Peggy Mason an der Universität von Chicago veröffentlicht, die zeigt, dass Ratten ihre Hilfsbereitschaft nach denselben Kriterien zuteilen wie die freundlichen Rassistinnen von nebenan.

Schon in einer früheren Arbeit hatten die Wissenschaftler gezeigt, dass Ratten Verhaltensweisen zeigen, die man beim Menschen als "empathisch" beurteilen würde (Das Mitgefühl der Ratten). In ihrem Versuchsaufbau setzten sie jeweils eine Ratte in ein Gehege, in dem sich eine Falle befand, in der eine andere Ratte saß. Die Falle ließ sich nur von außen öffnen, indem die Tür zur Seite oder nach oben weggekippt wurde.

Sobald die freien Ratten gelernt hatten, wie die Tür zu öffnen war, taten sie das zuverlässig (Weibchen allerdings zuverlässiger als Männchen) immer sehr bald, nachdem sie in das Gehege gesetzt worden waren. Aber sie öffneten die Falle nur für eine gefangene Mit-Ratte – war die Falle leer oder nur mit einer Spielzeugratte gefüllt, dann sparten sie sich die Mühe. Waren allerdings Schokoladenchips in der Falle, dann "befreiten" sie diese ebenso schnell wie einen Gefangenen, nur um sie dann ratzeputz aufzufressen.

Was würde nun geschehen, wenn die freie Ratte sowohl eine Falle mit Ratte als auch eine mit Schokolade in ihrem Gehege vorfinden würde? Sie öffnete beide mit gleicher mittlerer Schnelligkeit, also ohne bevorzugte Reihenfolge, und mehr noch: Danach teilte sie die Schokolade.

Ratten, das zeigt diese erste Studie, sind also zu sogenanntem "pro-sozialen", also altruistischem Verhalten imstande; sie helfen uneigennützig (nämlich sogar dann, wenn die befreite Ratte in einen separaten Käfig entlassen wurde und nicht zum Spielen verfügbar wurde), und absichtlich. Aber in dem Versuch waren es immer Käfiggenossen vom selben Stamm (weiße Ratten) gewesen. Würden sie dasselbe auch für fremde Ratten tun, oder gar solche mit schwarzem Gesicht?

Bild: eLife/CC-BY-SA-3.0

Vom Umgang mit Fremden

Das war die Frage der aktuellen Studie in eLife. Die Wissenschaftler wiederholten ihr Paradigma, nur nahmen sie diesmal einen zweiten Stamm mit schwarzer Zeichnung an Kopf und Rücken dazu, und sie unterschieden zwischen Käfiggenossen und fremden Ratten. War die gefangene Ratte so weiß wie die freie, dann wurde sie befreit, ganz gleich, ob die Tiere einander persönlich kannten. War die gefangene Ratte hingegen schwarz gezeichnet und obendrein unbekannt, dann wurde sie in der Falle sitzen gelassen – und zwar vierzig Minuten lang, bis der Experimentator die Tür öffnete. Hingegen wurde eine schwarz gezeichnete Ratte ebenso schnell freigelassen wie eine weiße, wenn die freie, weiße Ratte sie als Käfiggenossen kannte.

Helfen Ratten also nur genetisch ähnlichen Fremden? Nein, die Verwandtschaft ist nicht der entscheidende Faktor. In weiteren Experimenten ließen die Wissenschaftler weiße Ratten von der Geburt an von schwarz gezeichneten Müttern aufziehen. Später konfrontiert mit einer fremden Ratte in der Falle, halfen diese Tiere dem Stamm, bei dem sie aufgewachsen waren, und nicht dem, dem sie selbst genetisch angehörten. Ratten lernen also durch soziale Erfahrung, wen sie als ihresgleichen akzeptieren. Diese Flexibilität könnte vorteilhaft sein, denn obwohl Ratten überwiegend mit Verwandten zusammenleben, erlaubt sie es, dass die Gruppe auch dann von pro-sozialem Verhalten profitiert, wenn sie unvorhergesehen Fremde aufgenommen hat.

Empathie und das, was die Wissenschaftler als "emotionale Ansteckung" bezeichnen – also die Gefühle eines anderen mitzufühlen –, werden mittlerweile als evolutionär recht alte und im Säugetierreich weit verbreitete Fähigkeiten angesehen, nachdem die Wissenschaft jahrzehntelang geleugnet hatte, dass andere Tiere als der Mensch überhaupt dazu imstande wären.

Bild: eLife/CC-BY-SA-3.0

Wenn aber Hilfsbereitschaft bei Ratten ähnlich funktioniert wie bei Menschen, dann scheint diese Studie ein ebenso aufschlussreiches wie düsteres Bild von unserem Umgang mit dem Fremden zu entwerfen. Anscheinend war die Haltung der beiden Frauen, evolutionär betrachtet, ganz normal: Man mag die nette Kurdin von nebenan, aber "die Türken" im Allgemeinen trotzdem nicht.

Aber es gibt einen Lichtblick: In einem weiteren Experiment hielten die Forscher für jeweils zwei Wochen eine weiße mit einer schwarz gezeichneten Ratte im Käfig zusammen, und dann wieder mit einer weißen, ehe die weiße Ratte im Versuch mit einer ihr unbekannten gezeichneten Ratte in der Falle konfrontiert wurde. Nun kannte also die weiße Ratte den fremden Stamm, wenn auch nicht die fremde Ratte. Und half.

Die Autoren finden daher ein versöhnliches Fazit für ihren Artikel. "Auch wenn soziale Vorlieben durch kognitive Bemühungen nur schwer überwunden werden können", schreiben sie, "stützen unsere Ergebnisse die Existenz von wenigstens einem Mechanismus zur Änderung von Gruppenzugehörigkeit, der keine komplexe Kognition erfordert." Es gibt also noch Hoffnung für die netten Rassistinnen aus der Nachbarschaft. Allerdings müssten sie dazu erst einmal eine Ausländerin als solche erkennen, wenn sie vor ihnen steht.