Unbeschränkte Selbstkontrolle

Wer sich nach einem harten Tag im Büro nicht mehr vom Sofa zum Sport aufraffen kann, sollte nicht seine mangelhafte Selbstkontrolle verantwortlich machen: Diese Ressource ist beim Menschen anscheinend unbegrenzt

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Als Selbstkontrolle bezeichnen Psychologen die Fähigkeit, anders zu handeln, als Gedanken und Gefühle es vorzugeben scheinen. Sich also trotz des Muskelkaters auf Rad zu setzen, lieber Hausaufgaben zu machen als am Computer zu spielen oder eine Möhre statt eines Burgers zu verputzen.

Bisher gingen die Forscher davon aus, dass der Mensch nur eine gewisse Ausprägung an Selbstkontrolle besitzt (das lässt sich in vielen Experimenten messen), dass diese Ressource endlich ist und sich mit der Zeit leert. Zahlreiche Versuche bestätigen da auch einen Zusammenhang: Wenn ein Mensch eine Selbstkontrolle erfordernde Aufgabe ausführen muss, sinkt bei einer parallel zu erfüllenden zweiten Aufgabe zum Beispiel seine Leistung.

Trotzdem hat dieses Modell, das zeigen drei Forscher jetzt im Magazin Trends in Cognitive Sciences, einige Schwächen und bedarf einer Überarbeitung. Zum einen beschränkt sich seine Bestätigung auf Experimente mit zwei konkurrierenden Aufgaben. Es gelang bisher nicht, eine biologische Grundlage für die mysteriöse "Selbstkontroll-Energie" zu finden, sowohl das Blutzucker-Niveau als auch Nerven-Kapazitäten scheiden aus.

Zum zweiten lässt sich der Effekt leicht psychologisch aushebeln - schon der Glauben, eine unendlich große Selbstkontrolle zu besitzen, führt genau dazu. Zum Dritten ist das Konzept aber auch evolutionär unsinnig; ein Lebewesen sollte dann besonders fit sein, wenn es Selbstkontrolle möglichst flexibel einsetzen kann.

Die Forscher schlagen deshalb ein anderes Modell vor. Dass wir uns nach einem stressigen Tag nicht mehr vom Sofa erheben, liegt nicht etwa daran, dass uns die Selbstkontrolle ausgegangen wäre. Vielmehr führt der vorangegangene Akt der Selbstkontrolle (der Tag mit dem Chef) dazu, dass sich unsere intrinsische Motivation wandelt. Es ist keine Frage des Könnens, sondern eine des Wollens. Nicht mehr das "Muss-Ziel" (ich muss arbeiten, um Geld zu verdienen) ist wichtig, sondern das "Will-Ziel" (ich will mich amüsieren).

Demnach schwankt der Mensch dauernd zwischen diesen beiden Arten von Ziel - je nachdem, welches vorher dominiert hat. Evolutionär könnte das absolut wichtig gewesen sein, so die Forscher: Nach dem anstrengenden Sammeln von Früchten brauchte der Urmensch einen ziellosen Spaziergang, um seine Umgebung besser kennenzulernen.