Schlittert die Ukraine ins Chaos?

Nach einer Straßenschlacht in der Nacht auf Montag hat die ukrainische Regierung die Kontrolle über die Innenstadt von Kiew verloren

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Die Kiewer Polizei konnte zwar in der Nacht auf Montag einen Sturm auf das Parlament von mehreren tausend nationalistischen und rechtsextremen Demonstranten verhindern, aber sie hat die Kontrolle über einige Straßen in der Innenstadt von Kiew verloren. Am Montagabend flammten die Auseinandersetzungen zwischen radikalen Demonstranten und der Polizei erneut auf (Live-Übertragung des Fernsehkanals espreso.tv). Die Demonstranten des "rechten Blocks" stellten ein großes hölzernes Katapult auf. Der erste abgeschossene Stein verfehlte die Reihen der Polizei jedoch, worauf die mittelalterliche Waffe zur Überarbeitung aus der Kampfzone gezogen wurde.

Bild vom Montagabend

Die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen begannen am Sonntagabend nach einer friedlichen Großdemonstration. Auf dem Maidan hatten 100.000 Menschen gegen die Verschärfung des Demonstrationsrechts demonstriert. Danach zogen gut organisierte, gewaltbereite Demonstranten Richtung Parlament, wurden aber am Beginn der Gruschewskaja-Straße gestoppt. Die Demonstranten setzten Knüppel und Molotow-Cocktails ein, die Polizei schoss Lärm- und Gasgranaten ab und soll auch Gummigeschosse eingesetzt haben. Vier Polizei-Autobusse und zwei Lastwagen wurden von den Demonstranten in Brand gesetzt. Auf Seiten der Polizei als auch auf Seiten der Demonstranten kam es nach einer Meldung von Kommersant.ru zu jeweils 100 Verletzten.

Dass es im nationalistischen und rechtsradikalen Flügel der Pro-EU-Bewegung ein erhebliches Gewaltpotential gibt, wurde bereits am 1. Dezember 2013 deutlich, als 300 Militante versuchten, die Präsidialverwaltung in Kiew zu stürmen (Hass auf Moskauer, Juden und "andere Unreine"). Damals behaupteten Oppositionspolitiker in Kiew - ohne Beweise vorzulegen - , der Sturm sei vom ukrainischen Geheimdienst SBU organisiert worden, um der Opposition zu schaden. Oppositionsführer Vitali Klitschko versuchte am Sonntagabend die nationalistischen Demonstranten vom Sturm auf die Polizeieinheiten in der Gruschewskaja-Straße abzuhalten. Doch der Profi-Boxer wurde von aufgeheizten Demonstranten mit "Hau-Ab-Rufen" niedergebrüllt. Also Klitschko weiter durch sein rotes Megaphon sprach, setzte ein Demonstrant einen Feuerlöscher gegen den Boxer ein, worauf dieser für kurze Zeit nicht sprechen konnte.

Der Präsident verspricht "alle rechtlichen Mittel" einzusetzen

Vitali Lukjanenko, der Pressesekretär des Ministerpräsidenten Nikolai Asarow, erklärte am Montagmittag, die Ausrufung des Ausnahmezustands werde von der Regierung nicht erwogen. Präsident Janukowitsch rief die Bevölkerung am Montagabend in einer Fernsehansprache dazu auf, nicht denen zu folgen, "die zur Gewalt aufrufen und die versuchen die Spaltung zwischen dem Staat und der Gesellschaft zu provozieren und das ukrainische Volk in das Feuer von Massenunruhen zu treiben". Janukowitsch erklärte, er werde "alle rechtlichen und anderen nach den Gesetzen der Ukraine vorgesehen Möglichkeiten zur Sicherung der öffentlichen Ordnung nutzen".

In der Nacht auf Montag hatte der Präsident bei einem Vier-Augen-Gespräch mit Oppositionsführer Vitali Klitschko die Bildung einer Regierungskommission versprochen, die Verhandlungen mit der Opposition aufnehmen soll. Am Montagabend kam es dann tatsächlich zu einem Treffen zwischen Vertretern der Regierung und der Opposition. Präsident Janukowitsch nahm an den Gesprächen nicht teil. Die Vertreter der Opposition forderten, mit dem Präsidenten direkt zu verhandeln. Gespräche ohne den Präsidenten könnten nur "technischen Charakter" haben.

Klitschko hatte den Präsidenten bei dem Vier-Augen-Gespräch in der Nacht auf Montag aufgefordert, sofort Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments anzuordnen, sonst könnten die Auseinandersetzungen in Kiew zu einem Bürgerkrieg führen. Am Montagnachmittag rief Klitschko dann über YouTube alle Ukrainer auf, nach Kiew zu kommen. "Setzt Euch in die Autos, Kleinbus-Taxis und Autobusse. Ihr werdet hier gebraucht, damit die Ukraine gewinnt und nicht Janukowitsch."

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen hatten sich an den vom Parlament beschlossenen Verschärfungen des Demonstrationsrechtes entzündet. Das Aufbauen von Bühnen und Zelten auf öffentlichen Plätzen kann jetzt mit 15 Tagen Haft bestraft werden. Für die Blockade öffentlicher Gebäude drohen bis zu fünf Jahren Gefängnis. Dass westliche Kommentatoren diese Gesetzverschärfungen als Zeichen einer Diktatur deuteten, ist eigentlich unverständlich. Denn auch in westlichen Hauptstädten können in der Innenstadt keine unangemeldeten Zeltlager oder mehrtägige Blockaden durchgeführt werden.

Bild vom 20. 1. 2014

Tjagnibok begrüßte Catherine Ashton mit Diener und Handkuss

Bei den radikalen Demonstranten wurde unter anderem die rot-schwarze Fahne der in der Westukraine beheimateten nationalistischen Organisation UNA-UNSO gesichtet. Zu den gewaltbereiten Demonstranten gehören auch die Aktivisten der mit zehn Prozent der Wählerstimmen seit 2012 im Parlament vertretenen rechtsextremen Partei Swoboda (Freiheit). Die Partei wird von dem aus Lviv (Lemberg) stammenden ausgebildeten Chirurgen Oleg Tjagnibok geführt. Dieser bezeichnete die politische Führung in Kiew 2004 vor seinen Anhängern als "Moskauer jüdische Mafia".

Die Gewaltexzesse in Kiew sind für Kenner der Ukraine keine Überraschung. Nur die Politiker der EU wollten sich das offenbar nicht vorstellen können. Zumindest gab es bei den zahlreichen Besuchen westlicher Politiker auf dem Maidan im Dezember keine öffentlich geäußerten mahnenden Worte an Tjagnibok. Bei einem Empfang in Kiew im Dezember begrüßte der Chef der Swoboda-Partei die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton als einziger der drei ukrainischen Oppositionsführer mit Diener und Handkuss, eine geschickte Geste.

Dass die behelmten Sturmtruppen der Partei Swoboda, die bis 2004 noch "Sozial-nationale Partei der Ukraine" hieß, nach den erfolgreichen Aktionen im Dezember - Besetzung des Gewerkschaftshauses und der Stadtverwaltung sowie Sturz des Lenin-Denkmals - mit gezielten Aktionen weiter machen würden, war abzusehen. Die Maßnahmen der Polizei gegen die fanatischen Swoboda-Militanten wirken hilflos und unentschlossen. Die versuchte Räumung der besetzten Stadtverwaltung durch die Polizei scheiterte, weil die Besetzer aus den Fenstern des Gebäudes kaltes Wasser aus Feuerwehrschläuchen auf die Polizei laufen ließen. Das Lenin-Denkmal kippte, weil die Polizei die Bewachung des bei den Nationalisten verhassten Russen beendet hatte.

Die Radikalen genießen Sympathien der Bevölkerung nur in der West- und Zentralukraine nicht aber in der Süd- und Ostukraine. Die Mehrheit der Bevölkerung steht also nicht hinter den Rechtsradikalen. Doch mit Destabilisierung und Chaos versuchen die Rechtsradikalen ihrem Ziel, dem Sturz von Präsident Janukowitsch und einer anti-russischen Ukraine doch noch näher zu kommen.