Innenministerium mahnt wegen geleaktem Vermerk zum Europawahlrecht ab

Open Knowledge Foundation Deutschland will nicht zahlen und hofft, dass der Fall vor Gericht geklärt wird

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Am 9. November 2011 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen grundgesetzwidrig ist, weil die bei Bundestagswahlen gültigen Argumente für deren Einführung hier nicht greifen: Das Europaparlament ist nämlich ohnehin in aktuell 162 verschiedenen Gruppierungen zersplittert und wählt überdies keine Regierung. Das Weniger an Chancengleichheit, das eine solche Sperrklausel mit sich bringt, wird deshalb nicht durch ein Mehr an entsprechend wichtigen Rechtsgütern auf der anderen Seite aufgewogen.

Das Bundesinnenministerium ließ zwei seiner Hausjuristen gleich nach der Entscheidung prüfen, ob eine neue Zweieinhalb-Prozent-Hürde bei Europawahlen verfassungsgemäß sein könnte. Die beiden Spitzenbeamten kamen in einer sieben Tage später fertiggestellten Stellungnahme zum Ergebnis, dass bei Europawahlen auch eine niedrigere Sperrklausel grundgesetzwidrig ist. Das mit Steuergeld bezahlte Dokument, in dem sie das ausführen, wurde vom Ministerium nicht veröffentlicht.

Stattdessen verabschiedeten Union, SPD, FDP und Grüne im Sommer 2013 einen gemeinsamen Gesetzentwurf, der eine neue Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen festsetzt. Die dafür angeführten Argumente fanden kleinere Parteien, der Verein Mehr Demokratie und über tausend Bürger allerdings so wenig stichhaltig, dass sie erneut vor das Bundesverfassungsgericht zogen. Das prüft nach einer ersten Anhörung am 18. Dezember, ob "neue Umstände zur Rechtfertigung einer Sperrklausel eingetreten sind".

Vertreter der etablierten Parteien wie der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sehen solche neuen Umstände darin, dass das Europäische Parlament mittlerweile ein wenig mehr Mitsprache bei der Wahl des Kommissionspräsidenten hat. Der Lissabonvertrag, aus dem das hervorgeht, war dem Bundesverfassungsgericht allerdings schon vor der Sperrklauselentscheidung am 9. November 2011 bekannt – schließlich hatte es ja vorher die abgelehnte EU-Verfassung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft.

Um herauszufinden, wie die Rechtslage außerhalb der Parteien eingeschätzt wird, beantragten der EU-Kommissions-Aussteiger Guido Strack, Stefan Wehrmeyer von der Open Knowledge Foundation Deutschland und mehrere andere Personen unter Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz eine Herausgabe der Stellungnahme der Innenministeriumsjuristen vom 16. November 2011, die über das Portal Frag den Staat seinen Weg an die Öffentlichkeit fand.

Nachdem das Innenministerium davon Wind bekam, beauftragte es eine Rechtsanwaltskanzlei. Die konstatierte einen Verstoß gegen das Urheberrecht und schickte Wehrmeyer und Daniel Dietrich von Frag den Staat eine Abmahnung mit einer Kostennote in Höhe von 887,03 Euro. In der beiliegenden strafbewehrten Unterlassungserklärung sollte sich der Vorstand der Open Knowledge Foundation Deutschland bis 21. Januar dazu verpflichten, die Stellungnahme nicht weiter "zu verbreiten oder öffentlich zugänglich zu machen". Die Abgemahnten unterschrieben und zahlten jedoch nicht und wandten sich stattdessen an den Rechtsanwalt Ansgar Koreng.

Der verweist in seiner Reaktion an die Anwälte des Bundesinnenministeriums darauf, dass seiner Ansicht nach der behauptete urheberrechtliche Schutz nicht vorliegt, weil es dem handwerklich geprägten Vermerk der Beamten an "individueller Eigenprägung" mangelt, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Schutzfähigkeit von Anwaltsschriftsätzen fordert. Selbst dann, wenn solch eine Schutzfähigkeit gegeben wäre, sieht er die Veröffentlichung der Stellungnahme vom § 50 des Urheberrechtsgesetzes gedeckt, weil die neue Sperrklausel ein tagespolitisches Ereignis ist und weil es "ein erhebliches öffentliches Interesse daran [gibt, den] Widerspruch zwischen der internen Expertise des Ministeriums und der später im Gesetzgebungsverfahren vertretenen […] Auffassung aufzuzeigen".

Außerdem verweist er auf eine im letzten Jahr gefällte Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), in der die Richter zum Ergebnis kommen, dass in immaterialgüterrechtlichen Fragen Abwägungen zwischen Rechtsgütern auch dann notwendig sein können, wenn das Urheberrecht dies nicht explizit vorsieht. Vor allem das in Artikel10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützte Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit kann im Einzelfall die Interessen eines Immaterialgüterrechteinhabers überwiegen.

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