Brennende Polizisten und tote Demonstranten in Kiew

Weil die ukrainische Regierung weder zum Rücktritt noch zur Räumung aller besetzten Plätze bereit ist, kann sich der Stellungskrieg zwischen militanten Demonstranten und der Polizei noch länger hinziehen

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Am Mittwochvormittag, als die Polizei eine Barrikade an der Einfahrt zur Gruschewskaja Straße in Kiew stürmte, gab es die ersten Toten seit Beginn der Pro-EU-Bewegung Ende November. Die ukrainischen Nachrichtenagenturen berichteten am Mittwochmittag von zwei bis drei Toten. Der Leiter der selbstorganisierten Ersten Hilfe auf dem Maidan, Oleg Musij, sprach am Mittwochabend von fünf Toten. Bei vier der Toten habe man Schussverletzungen in der Brust, im Hals und im Kopf festgestellt, so Musij.

Ein Demonstrant zeigt die von der Polizei eingesetzten Gummigeschosse. Bild: Ilya Varlamov

Das ukrainische Innenministerium erklärte, Polizisten würden keine scharfe Munition einsetzen. Allerdings setzt die Polizei Gummigeschosse ein. Demonstranten zeigten Gummigeschosse, die besonders gefährlich sind. Auch Gasgranaten würden Polizisten mit Metallteilen verstärken, erklärten Demonstranten. Der ukrainische Ministerpräsident Nikolai Asarow erklärte, "die Verantwortung für die Opfer, die es leider gibt, liegt bei den Organisatoren und Teilnehmern der Massenruhen."

Der erste Tote war ein Armenier

Bei dem ersten Toten handelt es sich um den Armenier Sergej Nigojan. Der 20-Jährige wurde in der Ukraine geboren und war am 8. Dezember aus seiner Heimatstadt Dnepropetrowsk nach Kiew gefahren, um an den Protesten auf dem Maidan teilzunehmen. In einem Video hatte Sergej erklärt, auf dem Maidan "geht es auch um meine Zukunft". Nigojan hatte Schuss-Verletzungen im Hals und im Kopf. Um was für Geschosse es sich handelte durch die der junge Mann starb, könne erst nach der Öffnung des Leichnams gesagt werden, sagten Ärzte.

Brennende Polizisten, die mit Molotow-Cocktails beworfen wurden.

Die Eroberung der Barrikade in der Gruschewskaja-Straße am Mittwochmorgen diente nach Polizeiangaben angeblich dem Ziel, Behälter mit flüssigem Natrium zu beschlagnahmen, mit dem die Demonstranten ihre Molotow-Cocktails noch gefährlicher machen. Flüssiges Natrium hinterlässt schwere chemische Verbrennungen.

Zur Wirkung der Molotow-Cocktails hatte das ukrainische Innenministerium bereits am Dienstag ein schockierendes Video veröffentlicht, auf dem brennende Polizisten zu sehen sind. Das ukrainische Innenministerium teilte mit, bei den jüngsten Auseinandersetzungen in Kiew seien 195 Polizisten verletzt worden.

"Rechter Sektor" ruft Polizisten zur Befehlsverweigerung auf

Während die drei Oppositionsführer Vitali Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleg Tjagnibok am Mittwoch mit dem ukrainischen Präsidenten verhandelten, übernahmen die radikalen Demonstranten unter denen der "Rechte Sektor" die stärkste Kraft ist, wieder den von der Polizei geräumten Platz in der Gruschewskaja-Straße. Am Mittwochabend brannten dort Barrikaden aus Gummireifen. Nachmittags war ein Schützenpanzer auf den Platz gefahren, was Gerüchte auslöste, die Polizei würde den besetzten Maidan stürmen.

Der "Rechte Sektor" ist ein Bündnis von nationalistischen und rechtsradikalen Organisationen, zu der die Partei Swoboda (Freiheit), UNA-UNSO, Trisub (Dreizack) und Patrioten der Ukraine gehören. Aktivisten dieser Organisationen versuchten bereits am 1. Dezember, die Präsidialverwaltung zu stürmen (Hass auf Moskauer, Juden und "andere Unreine"). Außerdem stellten sie seit Beginn der Proteste das Personal zur Bewachung der Barrikaden auf dem Maidan.

In einer am Montag veröffentlichten Erklärung des "Rechten Sektors" werden die Führer der Opposition aufgefordert, keine Verhandlungen mit Vertretern des "kriminellen Regimes" zu führen. Die einzige Sprache, welche die Vertreter des Regimes verstünden, sei "die Sprache der Stärke". Die Polizisten werden aufgerufen, Ausführung der Befehle zu simulieren. Besser sei es jedoch, "die Kommandeure zu verhaften und den Aufständischen zu übergeben."

USA verhängen Einreiseverbote

Die Ereignisse in Kiew lösten heftige internationale Reaktionen aus. Der russische Außenminister Sergej Lawrow warf dem Westen am Mittwoch vor, er habe durch Besuche von Politikern auf dem Maidan die Proteste mit angeheizt. Die Regierung in Kiew erließ Einreiseverbote gegen einen Polen und einen US-Bürger, die sich an den Kiewer Protestaktionen beteiligt hatten. Die USA verhängten Einreiseverbote gegen ungenannte ukrainische Beamte. Der Nato-Generalsekretär erklärte seine Besorgnis über die Gewalt in Kiew und rief beide Seiten zu Verhandlungen auf.

Nach dem Ende der Verhandlungen gaben die Oppositionsführer keine Erklärung ab. Dies sollte am Mittwochabend auf dem Maidan geschehen. Die ukrainische Justizministerin, Jelena Lukasch, erklärte, die Verhandlungen würden am Donnerstag fortgesetzt. Ziel sei eine friedliche Lösung des Konflikts. Leider hätten sich die drei Oppositionsführer nicht von den Ausschreitungen der Extremisten distanziert, erklärte die Ministerin.

Vitali Klitschko drohte gestern Abend der Regierung mit einem Angriff

Die Opposition ruft nach den Verhandlungen dazu auf, dass möglichst viele Menschen zum Maidan kommen. Für die Partei Swoboda geht es um den Endkampf, den auch bereits Klitschko ausgerufen hat, wenn die Regierung nicht nachgibt. "Die Zeit für den Endkampf um die Zukunft der Ukraine ist gekommen", erklärte der Chef von Swoboda. "Heute nacht wird die Zukunft des ganzen Landes geformt. Es gibt keinen Platz für Verzweiflung oder Panik. Wer werden diszipliniert und organisiert handeln."

Klitschko sagte gestern Abend, Janukowitsch habe bei den Gesprächen keine Bereitschaft für eine Lösung gezeigt, beispielsweise baldige Neuwahlen oder den Rücktritt der Regierung. Er rief zu einem nationalen Streik auf, wenn die Oppositionsführer am Nachmittag erneut mit dem Präsidenten verhandeln. Die Menschen sollen um 12 Uhr eine halbe oder eine ganze Stunde die Arbeit niederlegen. Zudem rief er zur Solidarität mit den Protestierenden am Maidan auf und drohte mit einem "Angriff", wenn Janukowitsch morgen nicht reagiert: "Wenn wir kämpfen müssen, werde ich kämpfen", rief er der Menge zu.

Die Regierung wird schwach

Die ukrainische Regierung wirkt schwach und unentschlossen. Es gibt keine Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung wie noch während der orangenen Revolution 2004. Ein paar tausend Radikale bestimmen somit das Geschehen. Um wieder Autorität zu gewinnen, müsste die Regierung die besetzten Plätze und Straßen räumen lassen. Die verschärften Demonstrationsgesetze böten die Handhabe dazu. Doch vor so einer Maßnahme, die auf erbitterten Widerstand von mehreren Tausend gut organisierten Nationalisten stoßen würde, fürchten sich Präsident und Regierung.

Die Demonstranten fühlen sich als Helden einer Revolution und wollen nicht eher nach Hause gehen, bis der Präsident gestürzt ist. Mit der Räumung aller besetzten Plätze würde die Regierung somit auch Verletzte und weitere Tote, damit aber auch eine Verstärkung der Protestbewegung und harte Reaktionen des Westens riskieren.

Der ukrainische Ministerpräsident Nikolai Asarow erklärte am Mittwoch, die Regierung werde sich "unter dem Druck extremistischer Aktionen" keinem Ultimatum beugen. Das Ziel der Extremisten sei klar: "Die Macht soll zur Anwendung von Gewalt gezwungen werden, wie sie im Gesetz vorgesehen ist, und danach wird man alle Verantwortung auf die Macht wälzen."

Die Regierung beschränkt sich aus genannten Gründen somit auf eine Zermürbungstaktik, das heißt gezielte Verhaftungen, Gummigeschosse und Tränengas, in der Hoffnung, die Radikalen so von den Bürgern zu isolieren. Doch es sieht bisher nicht so aus, dass diese Taktik gelingt.