Wenn Gremien entscheiden…

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 10

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Warum geht aus den Aktivitäten großer Gremien wie Parlamenten, Fraktionen, Kommissionen oder Parteitagen so viel kollektiver Blödsinn hervor, obwohl da lauter gescheite Leute versammelt sind. Die Sozialpsychologie kennt seit langem das rätselhafte Phänomen, dass Gruppenentscheidungen oft eklatant leichtsinniger, verantwortungsloser und verbohrter als individuelle Entscheidungen sind. Die Mitglieder unterwerfen sich der Gruppe. Groupthink ist die Tendenz zu kognitiver Gleichschaltung und zur Preisgabe der sachlichen Distanz zur eigenen Gruppe. Der Einzelne verschwindet im Nichts. Die Dissipation der Verantwortung in demokratischen Gremien führt dazu, dass keiner individuelle Verantwortung trägt.

Wer unbefangen darüber nachdenkt, wie politische Entscheidungen zu Stande kommen, könnte sich ja sagen: Eigentlich kann da nur etwas Sinnvolles herauskommen, wenn in Parteigremien, Fraktionen, Parlamenten und Ausschüssen lauter qualifizierte, akademisch gebildete und womöglich noch einigermaßen lebenserfahrene Männer und Frauen sich zusammensetzen und über politisches Handeln beraten.

Das leuchtet auf den ersten Blick unmittelbar ein. Selbst sehr kritische Menschen entdecken bei dem einen oder anderen Politiker, wenn sie ihn in einer Talkshow sprechen hören, dass eigentlich ganz vernünftig ist, was er so sagt.

…kommt selten etwas Vernünftiges 'raus

Doch dann betrachtet derselbe unbefangene Beobachter die Resultate dieser Politik in Regierungen, Parlamenten, Fraktionen und Parteitagen, und schon bricht wieder das nackte Entsetzen ob des politischen Alltags über ihn herein.

Trotzdem bleibt die Frage: Wie kann es kommen, dass aus den Beratungen vieler vernünftig erscheinender Individuen über Jahre, ja Jahrzehnte hinweg, solch kollektiver Blödsinn hervorgeht, den kaum eines der beteiligten Individuen im Alleingang unterstützen oder auch nur befürworten würde?

Die Sozialpsychologie hat sich spätestens in den 1970er Jahren ausführlich mit dieser Frage beschäftigt und kann heute Antworten geben. Sie werfen allerdings kein gutes Licht auf den parlamentarischen Betrieb und stellen seine Leistungsfähigkeit in Frage.

Die Sozialpsychologen haben für das Phänomen einen Begriff geprägt: "Groupthink" oder auf Deutsch "Gruppendenken". Ausnahmsweise einmal ist der englische Ausdruck sehr viel plastischer und aussagekräftiger als der deutsche.

Sozialpsychologen hatten immer wieder dieses rätselhafte Phänomen beobachtet, dass Gruppenentscheidungen oft markant schlechter als individuelle Entscheidungen sind, weil die einzelnen Mitglieder einer Gruppe die Tendenz haben, sich - entgegen ihrer persönlichen Meinung - dem Urteil der Gesamtgruppe zu unterwerfen, um die Einheit der Gruppe zu fördern.

Groupthink ist also die Tendenz von Gruppen zu kognitiver Gleichschaltung und zur Preisgabe der sachlichen Distanz gegenüber der Gruppe und ihren Handlungsplänen.

Die Gefahr des Gruppendenkens besteht in seiner ausgeprägten Starrheit, Verbohrtheit und Irrationalität. Im Extremfall werden die gemeinsamen Denkvorstellungen der Gruppe zum Dogma erhoben, das gegen jede Vernunft dennoch eine hohe Anziehungskraft entfalten kann.

Die Orientierung an einem wirklichkeitsfernen Dogma kann im ungünstigsten Fall bis zum Untergang der Gruppe führen - ganz so wie die Vielzahl der Groupthink-Verirrungen die demokratischen Systeme an den Rand des Abgrunds geführt hat und womöglich auch in den Untergang führen wird.

Sahra Wagenknecht hat das sehr viel plastischer zum Ausdruck gebracht: Wenn man mehrere Monate lang als Berufspolitiker mit nichts anderem als dem Politikbetrieb beschäftigt sei, dann sei es nahezu unausweichlich, dass man nach und nach verblödet. Die politische Tretmühle macht es jedermann schwer, seine geistige Gesundheit zu verteidigen.

Oft tritt das "Groupthink"-Phänomen zusammen mit der Tendenz zum "risky shift" (Risikoschub) auf. Risky Shift bedeutet, dass Gruppen riskantere Entscheidungen als Einzelpersonen treffen, weil die Konsequenzen einer Fehlentscheidung sich auf alle Gruppenmitglieder verteilen. Kein Einzelner ist individuell verantwortlich. Je größer also ein Parlament ist, desto mehr verschwindet die Verantwortung des Einzelnen in der Masse. Etwaige Bedenken fallen der Gruppenstimmung zum Opfer und werden nicht mehr geäußert.

Das ist bei der schlecht durchdachten Einführung des Euros sehr deutlich geworden. Heute gehen alle Politiker, die für diese Entscheidung verantwortlich waren und damit den Völkern Europas schwersten Schaden zugefügt haben, auf seltsame Art und Weise davon aus, dass die Eurokrise so ähnlich wie eine Naturgewalt, wie ein Tsunami, über Europa hereingebrochen ist und nicht etwa durch das verantwortungslose und irrationale Handeln von Politikern.

Noch keiner von denen hat bisher eingeräumt: "Wir haben große Schuld auf uns geladen und gnadenlos geschlampt." Im Gegenteil, sie alle versuchen, sich nun als großartige Manager der Krise zu bewähren, zu der es ohne ihr Fehlverhalten überhaupt nie gekommen wäre.

Und dabei lügen sie sicherlich noch nicht einmal bewusst, sondern glauben offenbar redlich, dass alle möglichen anderen für die Krise verantwortlich sind, nur nicht sie selbst. Die Dissipation der Verantwortung in demokratischen Gremienentscheidungen führt dazu, dass keiner glaubt, er trage individuelle Verantwortung.

Die Verantwortung lastet auf vielen, vielen Schultern. Und die eigene Schulter ist wie durch ein Wunder gerade nicht dabei. Die meisten verlassen sich darauf, dass all die anderen schon wissen werden, was sie tun und schließen sich der Mehrheit an. So entstehen Mehrheiten ohne innere Überzeugung und aus reiner Ignoranz.

Dabei spielt offenbar auch die stets wachsende Größe der Entscheidungsgremien eine wichtige Rolle. Je größer die Gremien, desto besser können sich die einzelnen Mitglieder in der Menge verstecken.

Das haben Peter Egger von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und Marko Köthenbürger von der Universität Kopenhagen festgestellt, als sie die Finanzen von rund 2.000 bayerischen Kommunen untersuchten: Je mehr Abgeordnete in einem Stadtrat sitzen, desto höher sind die Ausgaben - unabhängig von der Einwohnerzahl.

Je mehr Abgeordnete es gibt, desto stärker ist der Wunsch bei ihnen ausgeprägt, ihren Wählern Wohltaten zukommen zu lassen und damit die Ausgaben und die Schulden in die Höhe zu treiben.1

In Problemlösungssituationen zeigen sich "hot cognitions". "Heiße Kognitionen" sind hoch emotionale, motivationale Aspekte des Denkens - im Gegensatz zu den rationalen "kalten Kognitionen". Eine "heiße Kognition" führt zu einer schnellen und quasi-automatischen Reaktion auf eine Situation und lädt daher geradezu zu Fehlentscheidungen ein. Heiße Kognitionen werden durch Stress ausgelöst, der durch den Zwang entsteht, eine rasche Problemlösung herbeiführen zu müssen.